GB/Irland 2017 · 121 min. · FSK: ab 16 Regie: Yorgos Lanthimos Drehbuch: Yorgos Lanthimos, Efthymis Filippou Kamera: Thimios Bakatakis Darsteller: Colin Farrell, Nicole Kidman, Barry Keoghan, Raffey Cassidy, Sunny Suljic u.a. |
||
Eine großartige, tiefschwarze Komödie zwischen Schmerz und Spiel |
Seit einigen Jahren macht im Kino eine »Griechische Neue Welle« von sich reden. Ihr Hauptvertreter ist Yorgos Lanthimos. Der war so erfolgreich, dass er seit neuestem seine Filme für große Studios und mit internationalen Stars dreht: Colin Farrell und Nicole Kidman. Nach The Lobster ist The Killing of a Sacred Deer sein zweiter englischsprachiger Film – Lanthimos' Handschrift eines skurrilen, absurden Witzes und bissiger Kritik bürgerlicher Lebensweisen ist aber auch in dieser schwarzen Komödie unverkennbar.
+ + +
Mit Schuberts »Stabat Mater« setzt der Film ein, laut, heftig, erschütternd, »Jesus Christus!« Ein menschliches Herz schlägt leinwandgroß, schnell und verwundbar, Bilder einer Operation am offenen Herzen. »Jesus Christus!!«
Der Herzchirurg wird von Colin Farrell gespielt. Ein paar Minuten lang begleitet man das Leben in einem Arzthaushalt, Ehefrau, zwei Kinder. Lanthimos' Kamera ist immer in Bewegung, sie zoomt, wenn auch langsam, an die Menschen heran. Das Reden aller
Filmfiguren ist immer etwas zu schnell, zugleich emotionslos, inhaltlich sind die Dialoge banal. Im Hintergrund ist atonale Musik zu hören. Ein grundsätzlicher Absurdismus steht im Raum, ebenso wie latente Depression. Verfremdungsmaßnahmen des Regisseurs im Kampf gegen den Naturalismus.
Er kommt Besuch von Martin, einem 16-Jährigen, der in den letzten Wochen mit Steven, dem Chirurg, Kontakt aufgenommen hat. Steven war der Arzt von Martins Vater, der nach einer Operation starb. Am nächsten Tag besucht Steven den Jungen, dessen Mutter dann erfolglose Annäherungsversuche macht. Sanft geht dieses von Anfang an etwas seltsame Verhältnis in etwas anders über: Stalking. Bedrohung. Doch da ist es schon zu spät, Stevens Tochter Kim trifft sich heimlich mit Martin, und eines Morgens kann der 13-jährige Bob nicht mehr laufen.
In der Cafeteria eröffnet Martin Steven dann seinen grausigen Plan: »Ja, es ist genau, was du denkst: Du hast einen aus meiner Familie getötet, jetzt wird einer von deiner Familie sterben. Du hast ein paar Tage Zeit, dich zu entscheiden, wer. Tust du es nicht, werden alle sterben.« Jetzt kennen wir die Spielregeln dieses Films. Es gibt Gewinner und Verlierer, das ist nicht zu ändern.
In den Filmen von Yorgios Lanthimos geht es immer um zwei Dinge: Schmerz und Spiel. Spiel bedeutet: Es gibt Regeln, aber die sind so willkürlich wie eisern. Wie im Kinderspiel. Wie aber macht man es, dass der Zuschauer auch etwas wirklich spürt, selber körperlichen Schmerz empfindet? Wir wollen ja im Kino sitzend gerade nicht, wie im Theater oder in einer Kunstperformance, unerwartet direkt miteinbezogen werden, mitspielen müssen. Wir wollen Voyeure bleiben. Wie also die Distanz aufheben?
The Killing of a Sacred Deer ist großartiger Arthouse-Horror. Über die zunehmend verzweifelten Versuche des Vaters, dem Schicksal auszuweichen und einen Ausweg zu finden, entfaltet Lanthimos einen komplexen, dabei immer leichthändig inszenierten Diskurs über Psyche und Physis, Spiel und Regeln, Rationalität und Irrationalität. Sein Film ist ein wunderbar sarkastischer Laborversuch, der zugleich einen Blick aufs Feld der griechischen Mythologie eröffnet: Offenkundig sind die Verweise auf den Mythos der Iphigenie. Agamemnon sollte darin für seine Schuld seine Tochter Iphigenie opfern. Der Filmtitel spielt darauf an, dass nach der Legende das Mädchen in letzter Sekunde durch eine Hirschkuh ersetzt wurde. Auch hier bietet Tochter Kim an, zu sterben, und keineswegs zufälligerweise hat sie in einem Chor gesungen und in der Schule Iphigenie rezitiert. Und auch hier fordern die Götter ihr Opfer. Und eine barsch entschlossene Mutter (Kidman) sagt: »Es ist das Natürlichste von der Welt, ein Kind zu töten.« Man könne ja ein neues machen.
Lanthimos inszeniert die Erwachsenen-Welt mit Kinderaugen, als blutig-absurde Hölle, er zeigt die Gnadenlosigkeit des Kinderblicks und dessen Zärtlichkeit, die Opfer der Kinder für die Sünden der Erwachsenen – das verbindet seine Filme mit denen Michael Hanekes. Ebenso sein Pessimismus. Vergletschert ist hier nichts, gefriergetrocknet freilich alles: Es ist der desinfizierte Pragmatismus dieses Ärzteehepaares, seine Sauberkeit, die den Regisseur erkennbar aggressiv macht. So blickt er auf die keimfreie Welt, in der die Erwachsenen wie unter örtlicher Narkose leben, also alles wahrnehmen, aber nichts mehr spüren.
Lanthimos rückt die Abgründe der westlichen Mittelstandsgesellschaft ins Zentrum. Aber er wirft keine Nebelkerzen. Er zeigt seine Wunde. Dabei gibt er auch dem Zufall Raum, und erlaubt sich die Provokation durch Mythologie und Geheimnis. Es gibt viele offene Stellen hier, vieles bleibt unklar. So ist The Killing of a Sacred Deer ein Misstrauensfilm, voller sarkastischem schwarzen Humor.
Echte Kritik an den Verhältnissen, eine Schärfe mit der die latente Verachtung zur expliziten wird, fehlt in seinem Film. Ebenso eine Utopie. The Killing of a Sacred Deer ist selbstkritisch, aber nie selbst-überschreitend und somit in gewisser Weise komplett dem verhaftet, was er kritisiert. Lanthimos ist einer von uns.