Kímma­piiyipits­sini – The Meaning of Empathy

Kanada 2021 · 129 min.
Regie: Elle-Máijá Tailfeathers
Drehbuch:
Kamera: Peter Robinson
Schnitt: Hans Olson
Filmszene »Kímma­piiyipits­sini - The Meaning of Empathy«
Hoffnung auf Heilung
(Foto: 36. DOK.fest@home)

„All it takes, is one person to care“

Elle-Máijá Tailfeathers intimes Porträt vom Leben und Überleben des Kainai-Stammes in Alberta ist Zeuge von tiefgreifenden Veränderungen innerhalb der Gemeinschaft und eine emotionale Aufforderung zu Empathie

Die neuen Druck­räume, Sucht­be­ra­tungs­stellen und Notun­ter­künfte im Kainai-Reservat kommen nicht überall gut an. Lange herrschte die Idee von Abstinenz als einzigem Weg aus der Drogen­sucht vor. Die konsu­mierten Drogen (über­wie­gend synthe­ti­sche Opioide) werden jedoch von Jahr zu Jahr stärker und konzen­trierter: Fentanyl ist hundertmal stärker als Morphin, Carf­en­tanil sogar zehn­tau­sendmal stärker. Zwei­und­zwanzig Überdosen in acht­und­vierzig Stunden reißen Löcher in Familien, die nicht zu füllen sind. Jedes Mitglied der Gemein­schaft hat eine Tochter, einen Sohn, Eltern, Onkel, Tanten oder Groß­el­tern an die Drogen­krise verloren.

In Kímma­piiyipits­sini –The Meaning of Empathy begleitet Tail­fea­thers enga­gierte Mitglie­dern der Gemein­schaft: medi­zi­ni­sches Personal, Frei­wil­lige in Sucht­be­ra­tungs­zen­tren oder Rettungs­kräfte. Mit darunter ihre eigene Mutter, die Ärztin Esther Tail­fea­thers. Sie alle versuchen, den Kreislauf des Schmerzes zu durch­bre­chen. Ein kollek­tiver Kraftakt und der hinge­bungs­volle Versuch alte, noch immer offene Wunden zu heilen. Mutter und Tochter führen gemeinsam durch den Film. Ihre Stimmen wirken als Vermittler, als klärende Zwischen­ebene. Sie stiften Klarheit und fordern gleich­zeitig zu Empathie auf, indem sie zusätz­liche Infor­ma­tionen geben, die Außen­ste­henden helfen, das Schicksal der Kainai-Gemein­schaft zu verstehen. Und damit das vieler anderer indigener Stämme der Welt.

Der Film stellt eine klare Verbin­dung zwischen kolo­nialer Gewalt und der Drogen­krise der Kainai her. Betrof­fene erzählen von Gräu­el­taten, die ihnen in Resi­den­tial Schools wider­fahren sind, von Armut, rassis­ti­scher Diskri­mi­nie­rung und dem gezielten Aushun­gern indigener Reservate durch die Kolo­ni­al­herren. Atem­be­rau­bende Luft­auf­nahmen der majes­tä­ti­schen, unend­li­chen Land­schaft gepaart mit Tail­fea­thers ruhigem und erklä­renden Voiceover stellen den Bezug zur Kolo­nia­li­sie­rung her. Sie zeigen Land, das den kana­di­schen First Nations gehört und zu Groß­teilen entrissen wurde. Gleich­zeitig sind die satten grünen Wälder, schnee­be­deckten Berge und flachen Gras­land­schaften eine Erin­ne­rung an eine ehemals gesunde Gemein­schaft, eine Utopie und der Wunsch nach jahr­zehn­te­langem Schmerz und Trauma zur alten Kraft zurück­zu­finden.

Die Anstren­gungen mittels Scha­dens­ver­min­de­rung und Über­le­bens­hilfe der Drogen­krise beizu­kommen treffen auf Gegenwind sowohl innerhalb der Gemein­schaft als auch auf poli­ti­scher Ebene. Während Betrof­fene schildern, dass sie durch Metha­don­pro­gramme endlich wieder funk­tio­nieren und leben können, wird ihnen vorge­worfen nur eine Droge durch eine zweite zu ersetzen. Wird eine Sucht­be­ra­tungs­stelle von der Regierung geschlossen, sind die Folgen verhee­rend: Alko­hol­sucht­kranke suchen sich zwangs­weise billige Alter­na­tiven zu auf dem Reservat illegalen Spiri­tuosen und greifen nicht selten zu Desin­fek­ti­ons­mit­teln, Mund­spü­lung oder Hairspray. Rückfälle und tödliche Überdosen nehmen zu. Kinder von abhän­gigen Müttern bekommen nicht die nötige Hilfe und sterben am Entzug, den die Geburt mit sich bringt.

Wie nötig Empathie zur kollek­tiven Heilung und zur Verhin­de­rung von weiterem Schmerz ist, zeigt sich auch an den rassis­ti­schen Anfein­dungen und Körper­ver­let­zungen, welche die Kainai immer wieder erleben. Gerade in der angren­zenden Mormonen-Stadt Cardston sind die Kainai nicht gern gesehen. »Kímma­piy­iipits­sini« bedeutet übersetzt so etwas wie Mitgefühl haben für andere, die nicht die gleiche Gesund­heit, das gleiche Glück haben wie man selbst. Es geht ums Teilen und darum, sich um andere zu sorgen. Dahinter steht die Frage: Wie kann ich jemanden verur­teilen, wenn ich weiß woher der ganze Schmerz kommt? Es ist einfach, Drogen­ab­hän­gige zu verur­teilen, die auf den Straßen betteln. Viel schwie­riger ist es, die Empathie aufzu­bringen, um die Geschichte und Situation eben­dieser zu verstehen. Niemand sucht sich ein Leben in Armut und Sucht aus. Niemand wünscht sich, dass Angehö­rige an Überdosen sterben.

So legt der Film zwar den Finger in die Wunde und deckt uner­bitt­lich die komplexen Gründe der Drogen­krise auf, er macht aber gleich­zeitig Hoffnung auf Heilung. Und fordert uns auf, gemeinsam »Kímma­piy­iipits­sini« in unserem eigenen Leben zu prak­ti­zieren.