Kanada 1996 · 78 min. · FSK: ab 16 Regie: Lynne Stopkewich Drehbuch: Lynne Stopkewich, Angus Fraser, Barbara Gowdy Kamera: Gregor Middleton Darsteller: Molly Parker, Peter Outerbridge, Jay Brazeau, Natasha Morley u.a. |
»To die is different from what anyone supposes,« schrieb Walt Whitman, »and luckier.«
Das Kind Sandra hat eine besondere Affinität zum Tod. Wie in einem heidnischen Ritual beerdigt sie in Schutz der Nacht die Kadaver von Vögeln. Der Tod ist eine intime Angelegenheit. Der Geruch des Todes, das Gefühl des Todes. Wenn Sandra die Tierleichen küßt, steichelt, über ihre Haut gleiten läßt, ist der Tod auch erotisch.
Später: Sandra arbeitet in einem Bestattungsunternehmen. Aufgebahrt liegen bleiche junge Männer, die Hände gefaltet, im dunklen Anzug. Im Tod sind sie schön, voll Würde und Geheimnis. Der Tod ist ein Licht, welches nicht blendet, so Sandra. Leichen scheinen wie Sterne. Und doch hat jede ihre eigene Geschichte, ihre Gefühle, Ängste und Sehnsüchte. Sandra liebt sie alle. In Frankreich heißt der Orgasmus auch la petite mort.
In einem Cafe trifft Sandra auf Matt, einen
Medizinstudenten. Scheu verlaufen die ersten Begegnungen, dann stürzt sich Sandra mit fast verzweifelter Hast in die Nacht und in Matts Arme. Einen warmen Körper aber empfindet sie als erstickend neben der Kühle der Leichen.
Das Debüt der jungen kanadischen Regisseurin Lynne Stopkewich ist kein spektakulärer Film, dafür aber umso einprägsamer. Kissed ist keine Konsumware und keine nekrophile Bedürfnisbefriedigung. Eigentlich ist Kissed nicht einmal ein Film über den Tod, sondern erzählt von der Unfähigkeit zu leben.
Vollkommen isoliert wirkt Sandra schon als Kind. Berührungen, Kommunikation, Hautkontakt ist nur möglich mit dem Leblosen. Die Stille, die Sandra im Tod sucht, die sie fasziniert, ist eine Stille, die sie schützt. Intime Bekenntnisse – so gesteht sie Matt unverholen ihre auch körperliche Liebe zu den Toten – können keine Intimität herstellen.
Auch Lynne Stopkewichs Kameraführung isoliert die Charaktere. Kissed ist ein Film im close-up. Alles scheint sich in den Gesichtern der beiden Protagonisten abzuspielen. Daß dieses Konzept aufgeht, liegt nicht zuletzt an den glänzenden Darstellern. Besonders Molly Parker zeichnet das eindringliche Porträt einer Frau, die bei aller Offenheit immer auch ein Mysterium in sich trägt, eine Verschlossenheit, die sich in ihrem Gesicht spiegelt. Aber auch Peter Outerbridge überzeugt in der Rolle des Matt, dessen verzweifeltes Bemühen um eine Beziehung jenseits des Oberflächenreizes schließlich nur mit drastischten Mitteln erfüllbar scheint.
Kissed wird wohl als »kleiner Film« gehandelt werden. Dabei ist Kissed ein Film der Spuren hinterläßt, der fesselt. Und das ist mehr als so mancher »große Film« dieser Tage für sich in Anspruch nehmen kann.
»He who lives longest and desires death much« so Aleister Crowley, »shall ever be the king among kings«.