CH/D/I/J 2018 · 82 min. · FSK: ab 0 Regie: Bernard Weber Drehbuch: Bernard Weber Kamera: Pierre Mennel, Bernard Weber Schnitt: Stefan Kälin, Dave D. Leins |
![]() |
|
Mutig, aber nie voyeuristisch |
Es geht ans Eingemachte. Genauer gesagt an ihre Organe, die sie so unglaublich zum Schwingen bringen kann. Mit dem Licht des geschluckten Endoskops wirkt ihr Mund für einen Moment wie eine von innen angestrahlte Maske an Halloween. Sie singt in normaler Tonlage, dann immer höher. Je höher, desto unangenehmer wird es, der Würgereiz kündigt sich an. Der Forscher ist glücklich. „Wonderful, excellent“, lobt er beim Entfernen des Endoskops. „Wonderful?!? Fuck you!!!“
Die junge Frau, die angesichts der Prozedur verständlicherweise kurz die Beherrschung verloren hat, ist die Brasilianerin Georgia Brown, sie steht aktuell im Guinness Buch der Rekorde als Person mit der höchsten Singstimme. Der Beschimpfte ist Matthias Andernach, Stimmforscher, er will das Phänomen Georgia Brown ergründen. Doch ist Entschlüsselung ohne Entzauberung möglich, ist sie überhaupt wünschenswert?
Der Wissenschaftler Andernach, der Vokalkünstler Andreas Schaerer, die klassische Sängerin Regula Mühlemann sowie die Stimmtrainerin Miriam Helle – sie alle setzen sich beruflich, leidenschaftlich, jedoch auf völlig unterschiedliche Weisen mit der menschlichen Stimme auseinander. Jeder/jede einzelne von ihnen ist ein Teil des Protagonisten- Quartetts, das Bernard Weber für seinen Dokumentarfilm Der Klang der Stimme sorgsam ausgewählt und zusammengestellt hat, und sie alle haben Wunderbares, Aufschlussreiches und Inspirierendes beizutragen über diesen Schall, den wir in uns erzeugen, der uns als Menschen eint und definiert, weil er unsere Widersprüchlichkeiten widerspiegelt: Er schützt und entlarvt uns, bestärkt und entmutigt uns, ist unser entscheidender, oft essenzieller Begleiter auf einer Bühne, aber genauso unverzichtbar in unserer Privatheit.
Weber zeigt diese Bereiche, beobachtet mutig, aber nie voyeuristisch. Jedes seiner Quartett-Mitglieder gewährt einen tiefen Einblick in seine Arbeit, den der Filmemacher in starken Bildern festhält: Wenn Sängerin Regula Mühlemann während Probe-Aufnahmen mit sich hadert, eine Schweizer TV-Moderatorin im Rahmen der Stimmtherapie bei Miriam Helle Emotionen jenseits von Worten bei sich entdeckt oder Andreas Schaerer auf der Bühne mit anderen internationalen Musikern zeigt, dass Stimme allein als Kommunikationsmittel mitunter noch wirksamer sein kann als Sprache, dann sind dies hochemotionale, im Falle der eingangs beschriebenen Sequenz mitunter sogar befreiend komische Momente.
Auch wenn der Titel Der Klang der Stimme zunächst etwas nichtssagend daherkommt, so ist er – bei näherer Betrachtung – genau richtig gewählt. Zwar sind in Webers Film auch Ausnahmetalente zu sehen, es geht jedoch nicht primär um die Bewunderung anderer. Vielmehr ist Der Klang der Stimme auch eine Einladung und Ermutigung, sich von der Scham zu befreien, mit der die eigene Stimme vielleicht durch bornierte Sichtweisen von ehemaligen Lehrern oder Erziehungsberechtigten belegt wurde. Denn wer sich auf die Suche begibt nach dem eigenen, höchstpersönlichen Klang der Sprech- und/oder Singstimme, wird ihn finden. Egal ob vergraben, verschollen oder versteckt – er ist immer da.