Deutschland 2014 · 89 min. · FSK: ab 0 Regie: Sabine Marina Drehbuch: Sabine Marina Kamera: Jonas Hieronimus Schnitt: Stjepan Marina |
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Unter der kleinen grauen Wolke, die einem folgt |
Agil und unbeschwert sieht man die junge Frau durch den Wald joggen. Sie verschwindet hinter einem Baum, um im folgenden Augenblick mit einem Gehstock wieder zum Vorschein zu kommen, langsam und unsicher die Füße nacheinander vom Waldboden erhebend. So wird sie vom nächsten Baum verschluckt, der sie, jetzt am Rollator geklammert und noch schlechter gehend, wieder dem Blick freigibt. Was kommt als nächstes für diese junge Frau?
Niemand weiß es – auch nicht Sabine Marina. Nicht einmal, ob dieses fiktive Szenario, mit dem sie dem Zuschauer ihre Zukunftsängste drastisch vor Augen führt, irgendwann mal Wirklichkeit werden muss. MS – die beiden Buchstaben fallen ihr, der sportlichen Mittzwanzigerin, mitten im Studium als wuchtige Diagnose auf die Füße. Was soll sie jetzt machen? Sie macht einen Dokumentarfilm darüber. Kleine graue Wolke ist Marinas Abschlussarbeit an der Hochschule Ostwestfalen-Lippe und eine höchstpersönliche, offene Auseinandersetzung mit der chronischen Nervenerkrankung. Im Zuge der komplett neuen Lebensfragen, mit denen sie konfrontiert wird, sucht sie Menschen auf, die ebenfalls und auf unterschiedliche Weise von MS betroffen sind, und tauscht sich mit ihnen aus.
Geschichten, die sich um den Macher selbst drehen, können eine heikle Sache sein. Denn um Bewegung in das eigene Thema zu bringen, auf der Suche nach Antworten, muss man ein Stück abrücken, Distanz schaffen. Doch die ist dem Selbstbetrachter zeitweise verwehrt, wenn er in der eigenen Arbeit als Hauptperson relevant und glaubwürdig bleiben will. Gleichzeitig besteht aber auch eine Herausforderung darin, den Zuschauer nicht mit dem eigenen Innenleben zu überfrachten und letztendlich gar zu langweilen. Der jungen Filmemacherin Marina gelingt dieser Balanceakt. Zwar ist sie omnipräsent, doch ungleich so mancher bekannter Schriftsteller mit MS scheint sie nicht im Loop ermüdender Selbstreflexion gefangen. Ihre eigenen Emotionen packt sie unter anderem wohl dosiert in ausdrucksstarke fiktive Szenarien – dabei legt sie ganz nebenbei auch ein Talent für Schauspiel und Körperlichkeit an den Tag, was für das Gelingen solcher Sequenzen unerlässlich ist.
Es gibt genügend Menschen in diesem Land, die der Film etwas angeht: Die Zahl der an Multipler Sklerose Erkrankten liegt derzeit bei circa 130.000, dank ausgeklügelter Diagnostik dürfte sie stetig ansteigen. Doch Statistiken und medizinische Fakten von Entzündungsherden im Gehirn und Rückenmark lässt Kleine graue Wolke wohltuend beiseite. Die lassen sich ohnehin nachschlagen und helfen nur bedingt dabei, eine Krankheit mit derart diffusem Erscheinungsbild für den Einzelnen treffend zu verorten. Marinas Gesprächspartner repräsentieren die MS-Symptomatik, die gerne als »bunt« beschrieben wird sowie die höchst unterschiedlichen Verlaufsformen: Deren Bandbreite reicht von Schüben, die wie teuflische Rebellen immer wieder mal den Alltag dreist und unverschämt an sich reißen, bis zum fortschreitenden Verlauf, dem Diktator, der das Leben irgendwann erobert hat und ab diesem Zeitpunkt gnadenlos bestimmt. Unaufdringlich, aber eindringlich, mutig, aber mit respektvoller Sensibilität porträtiert Marina diese Menschen, die MS haben, aber offenbar nicht per se und permanent an ihr leiden, denen oft das zu gelingen scheint, was man »das Leben meistern« nennt, ohne dass sie wie »Musterkranke« wirken.
Coming out, Medikation, Familiengründung? Marina fragt, bekommt Antworten, sehr präzise von der Kamera von Jonas Hieronimus eingefangen. Die Erfahrungen und Haltungen stehen für sich gültig und wertig nebeneinander. Wofür man sich entscheidet, wie man neue ungewohnte Empfindungen einzuordnen hat – all das stellt sich nicht als einmaliger Akt, sondern als Prozess heraus, der wie ein Zug durch Berge und Täler fährt. So wird auch bei Sabine Marina ein Wandel spürbar: Von Bewertung und tiefer Verunsicherung, die seismographisch dokumentiert, was alles nicht mehr so gut geht, hin zur »Jetzt-erst-recht«-Offensive, die neugierig statt angstvoll fragt, was da wohl als nächstes so kommt.
Kleine graue Wolke bietet erkenntnisreichere Einblicke als so manches Pharma-Aufklärungsfilmchen und sollte deshalb der Verschreibungspflicht unterliegen – alle Neurologen sollten verpflichtet werden, ihren MS-Patienten einen Kinobesuch für den Dokumentarfilm zu verschreiben, insbesondere den sogenannten »Neuerkrankten«. Allen anderen ist er sehr zu empfehlen – vor allem jenen, die in ihrer Gleichung »MS gleich Rollstuhl gleich trauriges Schicksal« noch haufenweise dicke Denkfehler haben.
Sabine Marina bloggt und lädt ihre Leserinnen und Leser und Zuschauerinnen und Zuschauer ihres Films dazu ein, Gastbeiträge zu verfassen: Wer meinen Blog länger verfolgt, weiß, dass ich an die Gemeinschaft glaube und dass wir – die 1000 Gesichter – uns untereinander mit unseren »Experimenten« und Erfahrungen unterstützen und helfen sollten. Das war und ist schon immer das Konzept hinter »Kleine graue Wolke« gewesen. Daher stelle ich euch heute meine neue Gastbeitrags-Reihe »Schreibgast« vor. Hier schreiben meine Blog-Leser und teilen ihre Geschichte mit euch.