Frankreich/Belgien 2009 · 91 min. · FSK: ab 0 Regie: Laurent Tirard Drehbuch: Laurent Tirard, Grégoire Vigneron Kamera: Denis Rouden Darsteller: Maxime Godart, Valérie Lemercier, Kad Merad, Sandrine Kiberlain, François-Xavier Demaison u.a. |
||
Der kleine Nick: Comic, Comedy, Literaturverfilmung u.v.m. |
Der Begriff der „Befangenheit“ taucht normalerweise in der Rechtsprechung auf (Ablehnungsgesuche), in der Bundesrechtsanwaltsordnung (Verbot der Vertretung widerstreitender Interessen nach § 43a Abs. 4 Bundesrechtsanwaltsordnung) und bei Widerstreit der Interessen bzw. Interessenkollisionen auch in der Politik. Mit Befangenheit wird der Zustand eingeschränkter (d. h. nicht unabhängiger) Urteilsfähigkeit einer Person auf Grund einer im speziellen vorliegenden persönlichen Motiv- oder Sachlage oder eingeschränkten Urteilsvermögens auf Grund von einseitig d. h. nicht in ausgewogenem Verhältnis vorliegenden Vorabinformationen bezeichnet. Befangenheit liegt bereits vor, wenn es nur Gründe für Zweifel an der Unparteilichkeit eines Entscheidungsträgers gibt.
Im Grunde müssten die oben genannten Befangenheitsklauseln nicht nur in Politik und Rechtsprechung, sondern auch auf die Filmkritik angewendet werden, zumindest in schweren Fällen. Wenn dies so wäre, müsste der Autor dieser Zeilen zum Beispiel Abstand von einer Besprechung über den Kleinen Nick nehmen und sie besser abgeben. An einen Nichtvater zum Beispiel. Denn: ich bin Vater. Ich habe einen achtjährigen Sohn, der beim gemeinsamen Kinobesuch den Kleinen Nick liebte und vor lauter Lachen fast das Ende nicht mitbekam: was, schon zu Ende? Ach, wie schade! Mit glänzenden Augen und aufrechtem Körper, nicht einen Moment in der Lehne des Kinosessels versunken, erinnerte er mich an meine ersten Kinobesuche, das fast allumfassende Glücksgefühl, das ohne Erfahrung, dem Fluch des Vergleichens, ohne die lange, immer verkorkster werdende eigene Filmbiografie, einfach wirklich noch reinstes Glück bedeutete.
Aber meine Befangenheit ist weitaus komplexer, denn ich habe nicht nur einen Sohn, sondern auch eine hochschwangere Lebenspartnerin – alles genauso wie in der Geschichte um den Kleinen Nick. Eine Freundin also, die zwar nicht immer an den gleichen Stellen gelacht und gebangt hat wie mein Sohn (der eigentlich auch keine Angst vor seinem neuen Geschwister hat, so wie der kleine Nick im Film. Oder vielleicht doch? Hat ihm gerade deshalb der Film so gut gefallen, weil ihm endlich jemand aus der Seele gesprochen hat?), die aber dennoch mal zu Tränen gerührt, dann wieder vor Lachen kaum Atmen konnte; ein echtes Handicap für Hochschwangere. Aber eins, das sie glücklich war, eingegangen zu sein.
Und als Vater, dem eigentlichen Kern meiner Befangenheit? Gibt es Zweifel, die für den Angeklagten sprechen könnten? Leider nein: und das, obwohl die episodische Aneinanderreihung familiärer und schulischer Erfahrungen eines Grundschülers im Frankreich Ende der 1950er Jahre weit genug entfernt sein sollte, um sich emotional entziehen zu können. Aber nein – jedem filmischen Köder dieser perfekten Illusion eines fernen Schülerlebens folgte ich ganz einfach nur dankbar, nur hin und wieder musste ich die Zähne zusammenbeißen, um nicht ganz und gar zu einer lachenden und weinenden Grimasse zu erstarren. Und das nicht nur bei den Kernthemen meiner Befangenheit, die halt auch vor fünzig Jahren die Kernthemen eines alternden Familienvaters gewesen sind: die groteske Alltäglichkeit familiärer Dispute, verlorene beruflicher Träume, grausamste Strukturanpassungsmaßnahmen der eigenen Persönlichkeit – schwerstes bergmansches Kanonenfutter, das unter der Regie von Laurent Tirard konsequent über wunderbare Slapstick-Sequenzen entschärft wird, ohne dabei den Zündstoff zu verlieren.
Nein, auch bei den Episoden über die Kindheit, die für Erwachsene normalerweise so vergessen wie die 1950er Jahre ist, das Kindsein mit seinen fragilen und dann doch so festen Freundschaften und Lehrern, die über das Leben danach entscheiden – Achterbahnfahrten des Zufalls und der Leidenschaft – ging es mir nicht anders. Und wann hat mich zuletzt der Vorspann eines Films so eingenommen, dass ich schon da bereit bin, dem eigentlichen Film jeden Fehler zu verzeihen?
Und dann ist da noch die Erinnerung an ein Buch, das ich nie gelesen habe, über das aber alle geredet haben und das erst jetzt, mit dem Film und nach dem Film auch zum Vorlesebuch für meinen Sohn geworden ist. Andersrum geht also auch.