Frankreich/L 2022 · 86 min. · FSK: ab 0 Regie: Amandine Fredon, Benjamin Massoubre Drehbuchvorlage: René Goscinny, Jean-Jacques Sempé Drehbuch: Michel Fessler, Anne Goscinny, Benjamin Massoubre Musik: Ludovic Bource |
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Mensch denkt, Nick lenkt | ||
(Foto: Leonine) |
»Ich find das prima, wenn einer weiterspielt, auch wenn die anderen nicht mehr dabei sind.« – Sempé/Goscinny, Der kleine Nick
Er ist einer der ganz großen Klassiker der modernen Kinderbuchliteratur, der auch heute noch in Kinderzimmern anzutreffen ist, obgleich das legendäre Kreativgespann, der Texter René Goscinny und der Zeichner Jean-Jacques Sempé, ihre Geschichten um den Alltag eines kleinen Jungen mit Namen Nick bereits zwischen 1959 und 1964 veröffentlicht haben. Aber so modern Nick damals war, so modern er ist er auch heute noch, denn ganz im Sinne einer neuen Welle reformpädagogischer Ideen hatten Sempé und Goscinny die Welt tatsächlich aus der Sicht eines Kindes erzählt, ein ideales Identifikationsmodell für Kinder, das heute selbstverständlich ist, damals aber noch so gut wie gar nicht anzutreffen waren, von Ausnahmen wie »König Hänschen« von Janusz Korczak einmal abgesehen. Dass Nick trotz seiner ja etwas angestaubten Herkunft weiterhin funktioniert, es Nick inzwischen ja sogar als Animationsserie auf Kika und auch als gelungenen Realfilm (Der kleine Nick, 2009) gibt, liegt aber natürlich nicht nur an dem modernen pädagogischen Konzept, sonder auch an ihren Vätern, Sempé und Goscinny, deren Kreativität und subtiler Humor sich auch in ihren späteren Werken als zeitlos erwies.
Wie so oft im Comic-Bereich, entstand auch beim »Kleinen Nick« durch das Autor-Zeichner-Gespann etwas Einzigartiges, eine Art von Amalgam, das sich mit einem anderen Partner nicht wiederholen lässt. Wie man etwa an Goscinnys späterer Zusammenarbeit mit Uderzo und ihren Asterix-Bänden sehen kann, deren Humor und Inhalte nicht weiter vom »Kleinen Nick« entfernt sein könnten. Denn wie später eigentlich gar nicht mehr, ließen Goscinny und Sempé in den »Kleinen Nick« ihre Verletzungen und ihre Trauer mit einfließen und es ist ein Glück, dass der Film von Amandine Fredon und Benjamin Massoubre auch davon erzählt.
Goscinnys Tochter Anne, die für das Drehbuch Verantwortliche, hält die Erzählung dabei in einem wunderbaren, assoziativen Gleichgewicht mit den erzählten Nick-Geschichten, deren Inhalte spielerisch mit den biografischen Ereignissen im Leben von Goscinny und Sempé versetzt werden. Dabei wird nicht nur über die traumatische Vergangenheit des aus jüdischer Familie stammenden Goscinny erzählt, der die Zeit nur überlebt, weil seine Familie nach Argentinien ausgewandert war, sondern auch die schlagenden Pflegeeltern von Sempé thematisiert und eine düstere Kindheit, die er erst mit dem »Kleinen Nick« erfolgreich »austherapierte«.
Eine Therapie, die auch diesem Film nur gut tut, denn der Betrachter liest und sieht die Geschichten mit einem neuen Blick. Sie bleiben weiterhin poetisch und so leicht und zuversichtlich, wie sie jeder vielleicht das erste Mal wahrgenommen hat. Aber wir erkennen jetzt plötzlich auch ihren Kern, der über die immer wieder überraschenden Animationen noch einmal verstärkend illuminiert wird.
Denn zum einen wird Sempés Zeichenstil emuliert und gleichzeitig zu etwas Nostalgischem, aber auch ganz Neuem transformiert. So dass wir am Ende auch hier erkennen, dass nicht immer alles so ist, wie es scheint, dass Kunst, und vor allem Humor so viel mehr sein können: die Rettung vor den eigenen Abgründen der Erwachsenen und die Rettung vor der Mühsal des Alltags in einer kinderfeindlichen Welt für die Kinder.
Dass ein Kinderfilm sich auf dieses Terrain wagt, die Erwachsenenperspektive genauso wie die der Kinder überzeugend und mutig bedient, und dabei noch so leicht und ins Leben verliebt daherkommt wie Nick und seine Freunde, ist ihm hoch anzurechnen und macht ihn damit natürlich zu etwas ganz Seltenem – dem fast schon idealen Familienfilm.