GB/F 2023 · 101 min. · FSK: ab 12 Regie: Thea Sharrock Drehbuch: Jonny Sweet Kamera: Ben Davis Darsteller: Olivia Colman, Jessie Buckley, Timothy Spall, Anjana Vasan, Joanna Scanlan u.a. |
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Kampf der Systeme... | ||
(Foto: STUDIOCANAL) |
Wer glaubt, dass die unsäglichen Rufmordkampagnen in den sozialen Medien und im Internet ein Kind unserer Zeit sind, hat wahrscheinlich noch nie ein Buch gelesen oder ist noch nie im Kino gewesen.
Denn wer Verlorene Illusionen, das große Meisterwerk von Honoré de Balzac gelesen oder die 2021 in Deutschland leider völlig gefloppte exzellente Verfilmung von Verlorene Illusionen durch Xavier Giannoli gesehen hat, weiß, dass es den Kampf um Fake-News schon vor 200 Jahren gegeben hat. Dass es sich mit Social Media ebenfalls nicht viel anders verhält, zeigt uns nun Thea Sharrock in Kleine schmutzige Briefe.
Die leichte Komödie blickt auf das Jahr 1920 zurück. Der Erste Weltkrieg ist vorbei, aber vor allem bei den Frauen, die hier im Zentrum stehen, noch nicht vergessen. Auch deshalb, weil die Rolle der Frau sich innerhalb der Männermangelwirtschaft während des 1. Weltkriegs für einige Jahre geändert hatte und mit der vor dem Weltkrieg geleisteten, feministischen Aufbauarbeit der Suffragetten-Bewegung ungeahnte Änderungen erfahren hatte, die jedoch, so wie nach dem 2. Weltkrieg, schnell wieder rückgängig gemacht wurden.
Auf diesen Moment der Rückbesinnung auf alte Werte konzentriert sich Sharrocks Film, der von der unabhängigen, mit einem Schwarzen liierten und alleinerziehenden Kriegswitwe Rose Gooding (Jessie Buckley) erzählt, die ihr Leben und die Liebe in vollen Zügen genießt. Durch ihre lockere Moral gerät sie allerdings dann auch sofort in Verdacht, die Autorin von vulgären, kleinen Briefen zu sein, die der verklemmten Nachbarin regelmäßig von der Post zugestellt werden. Edith Swan (Olivia Colman) ist das ganze Gegenteil von Rose und verkörpert den neuen konservativen, restaurativen Zeitgeist der Nachkriegsjahre.
Diese Gegensätze und der daraus entstehende Kampf um die angegriffene Selbstermächtigung der Frau werden von Sharrock vor allem im ersten Teil des Films souverän und spannend und äußerst ernüchternd inszeniert. Dabei wird auch schnell deutlich, dass die analoge Post der digitalen Post an Wirkungsmacht in nichts nachsteht, dass wie heute niemand erst etwas lesen muss, um den Inhalt eines Dokuments an die »Community« weiterzuleiten.
Auch schauspielerisch überzeugt Kleine schmutzige Briefe bis zu diesem Zeitpunkt. Warum dann jedoch Sharrock einen Film, der bis dahin zweigleisig exzellent funktioniert und ein wenig an Sarah Gavrons Frauenemanzipationsdrama Suffragette: Taten statt Worte (2015) erinnert, in dem die Frauenrechtsbewegung vor dem 1. Weltkrieg Thema ist, zu einer boulevardesken Komödie überführt, ist rätselhaft. Denn bleibt Suffragette trotz einer ebenfalls etwas forcierten Leichtigkeit gerade in den Gruppenprozessen ernst bei der Sache, verliert Kleine schmutzige Briefe die eigentlich Sache mehr und mehr aus den Augen.
Was sich im zweiten Teil entwickelt, ähnelt dann mehr einer Klamotte im Miss Marple-Stil, als dem Film, der es bisher war. Statt einem ernsten Drama mit leichten, leidenschaftlichen und emanzipatorischen Selbstermächtigungsanteilen gibt es nun bizarres Overacting einer Gruppe alter Damen und abstruse, trottelige Verfolgungsjagden, die in ein dann wenig überraschendes Finale kulminieren.
Dass man dennoch auch diesem zweiten Teil interessiert zusieht, liegt allerdings weniger an den haarsträubenden Dialogen und einer wirren Dramaturgie als den überragenden Hauptdarstellerinnen, die man im ersten Teil so sehr liebgewonnen hat, dass man ihnen zum Ende hin fast schon alles verzeiht.