Frankreich 2010 · 155 min. · FSK: ab 12 Regie: Guillaume Canet Drehbuch: Guillaume Canet Kamera: Christophe Offenstein Darsteller: François Cluzet, Marion Cotillard, Benoît Magimel, Gilles Lellouche, Jean Dujardin u.a. |
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Ferienstimmung |
Ein Urlaub am Cap Ferret an der Atlantikküste, südwestlich von Bordeaux. Seit Jahren fährt ein Pariser Freundeskreis in den Sommerferien gemeinsam dorthin. Max, ein vielbeschäftigter Choleriker, seine Ehefrau Vero, seine besten Freunde Vincent und Jean-Louis, die schöne Undurchsichtige Marie, der Frauenheld Eric, Antoine, der getrennt lebt und der ein bisschen spinnerte Ludo. Aber diesmal wird schon ziemlich früh alles anders: Ludo hat einen schweren Motorradunfall, und liegt lebensgefährlich verletzt im Krankenhaus. Diese Begegnung mit der Gefahr des Todes wird für alle anderen zum Auslöser einer neuen Wahrhaftigkeit im Umgang mit sich und den Freunden. Zum ersten Mal seit Jahren lösen sich die erstarrten Rituale des Freundeskreises auf. Es wird Klartext gesprochen, und die Beziehungen neu geklärt. Das wird für alle Beteiligten so schmerzhaft wie befreiend. Kleine wahre Lügen heißt im französischen Original Les petits mouchoirs was symbolisch für das steht, womit sich alle kleinen und größeren Lebenslügen zudecken lassen.
Dies ist wieder so einer dieser französischen Filme, wie man sie seit Jahrzehnten zu kennen glaubt, und sie einen doch immer wieder ins Herz treffen und überraschen wie am ersten Tag. Man weint und lacht in ihnen im gleichen Moment, man will nicht, dass sie aufhören, obwohl sie doch schon fast zweieinhalb Stunden dauern. In ihnen sieht man wohlerzogene, gebildete Menschen mittleren Alters, die meist aus Paris kommen und gut aussehen – etwa zehn Jahre jünger, als sie tatsächlich sind. Endlos sitzen sie auf schönen Möbeln und an Tischen, essen, trinken, blicken, lächeln, vor allem aber reden, reden, reden sie. Sie reden über das Essen und über sich, sie reden über Belangloses und Bedeutungsvolles, was bei ihnen meistens sowieso nicht leicht zu unterscheiden ist, aber man hört ihnen gerne zu, denn egal worum es geht, am Ende geht es sowieso immer um das eine: Die Liebe und das Leben. Wie sie das tun, daran kann man sich gar nicht sattsehen und -hören, und darum vergehen die in diesem Fall 154 Filmminuten auch tatsächlich wie im Flug.
Der französische Schauspieler Guillaume Canet bringt hier in seinem dritten Film als Regisseur (nach Mon idol und Ne le dis à personne) einige der größten Stars des französischen Films zusammen: Marion Cotillard, Benoît Magimel, Gilles Lellouche, Valérie Bonneton, François Cluzet und einige mehr.
Sein Film setzt eine Tendenz fort, die sich im letzten Jahrzehnt in Frankreichs Kino beobachten lässt: Man kann hier fast von einem neuen Genre des reflektierten oder intellektuellen Melodrams sprechen und muss dankbar eingestehen, dass hier Frankreich wieder einmal dem Rest des europäischen Kinos voraus ist: Diese neuen Filme sind voller Emotion, pathetisch, romantisch, manchmal auch sentimental und nostalgisch. Dabei zugleich überaus reflektiert. Sie sind sich ihrer eigenen Mittel nicht weniger bewusst, als Godard es war, stellen diese Tatsache aber weniger aufdringlich ins Zentrum. Und ihre Hauptfiguren sind klug, reflektiert und können ihre mitunter sehr komplexen Gedankenprozesse, wenn es sein muss, auch in verständliche Worte fassen. Meistens aber ist es gar nicht nötig, da genügen Andeutungen, weil der Film durch Beobachtung, durch Bilder, durch kluge Schnitte schon längst alles Nötige gesagt hat. Vor allem Christophe Honoré und Arnaud Desplechin, aber auch Agnès Jaoui, Abdellatif Kechiche und eben Guillaume Canet sind wichtige Vertreter dieser neuen Stilrichtung, die die Tradition der Nouvelle Vague neu zu beleben sucht, ohne ihre Gesten einfach nachzuäffen. Sie fragen danach, wie sich die großen Gefühle und die großen Fragen nach Liebe und Sinn heute überhaupt erzählen lassen, ohne dass es lächerlich wird. Es geht dabei um eine Gratwanderung: Man darf nicht jeden Herzschmerz gleich unter Kitschverdacht stellen, aber andererseits nicht jede Sentimentalität damit entschuldigen, das gehöre nun mal dazu.
Wie das auf der Leinwand aussehen kann, zeigt Canets Film. Stilistisch virtuos, dabei gelassen und bemüht um Wahrhaftigkeit, führt der Regisseur die verschiedenen kleineren Geschichten und Erzählstränge immer wieder in großen intensiven Szenen zusammen. Kleine wahre Lügen ist eine hochemotionale Achterbahnfahrt der Gefühle. Sehr witzig, voller guter Beobachtungen, geprägt von der Liebe zu seinen Figuren und den Menschen als solchen.