Der Knochenmann

Österreich 2008 · 126 min. · FSK: ab 16
Regie: Wolfgang Murnberger
Drehbuch: , ,
Kamera: Peter von Haller
Darsteller: Josef Hader, Josef Bierbichler, Birgit Minichmayr, Christoph Luser, Simon Schwarz u.a.
Liebe tut weh – besonders dem, der nur zuschaut

Love Hurts

Es gibt viele grausame Momente in Der Knochen­mann. Es wird oft und unschön gestorben; gleich im Vorspann erlebt man im Makro-Detail die Tier­mehl­mühle in Aktion, die im Verlauf der Handlung eine solch zentrale Rolle spielen wird; und mindes­tens eine Einstel­lung gegen Ende entlockt selbst dem The Texas Chainsaw Massacre-gestählten, abge­brühten Horrorfan ein über­rum­peltes »Auweh!«.
Aber der viel­leicht grau­samste Moment ist ein unschein­barer, eher beiläu­figer. Einer, der mit den makabren Gewalt­ver­bre­chen in und um die Backhendl-Station »Löschen­kohl« gar nicht unmit­telbar zu tun hat: Es ist ein Moment auf dem Faschings­ball dieses Wirts­hauses, dessen grölendes Toben ohne Wissen um die grausigen Vorgänge im Keller den Showdown begleitet. Ein Faschings­ball, der einem ohnehin den Ekel vor dem Mensch als enthemmter Masse einflößen kann, wie es vor und seit Kehraus keinem Film mehr gelungen ist. Auf diesem Faschings­ball spielt eine Band von perfekt authen­ti­scher Wider­wär­tig­keit, »Die Playboys«. Und deren Sänger widmet der neuen Freundin des Wirts eine Nummer: Diese Freundin, Valeria, ist eine ehemalige osteu­ropäi­sche Prosti­tu­ierte – von Dorka Gryllus großartig zum Leben erweckt als eine nicht klassisch schöne, aber süße Frau, zu jung eigent­lich für alles, was sie schon durch­ge­macht haben muss, und ganz prag­ma­tisch auf der Suche nach einer Möglich­keit, sich durch­zu­schlagen, ohne sich vollends zugrunde zu richten. Löschen­kohl hat sie aus dem Puff jenseits der Grenze geholt, hat für sie mehr geopfert, als irgend­je­mand ahnt, er scheint sie zu lieben, so gut ein solch grob­schläch­tiger, ruppiger Mann nur lieben kann. Und alles deutet darauf hin, dass sie ihn nicht bloß ausnutzt – dass, klar, er nicht ihr Traummann ist, aber sie ihm dankbar ist, sie ihn gern hat, und sie nach Möglich­keit versuchen wird, das Arran­ge­ment wirklich als Beziehung funk­tio­nieren zu lassen.
Das Lied, dass ihr der »Playboys«-Sänger feixend und zum Johlen der Menge widmet, ist »Skandal im Sperr­be­zirk«.
Und dieser Moment ist deshalb so grausam, so schwer erträg­lich, weil die Boshaf­tig­keit, die in ihm aufbricht, so völlig schamlos offen und so völlig grundlos, so eiskalt ist. Er wird noch schlimmer dadurch, dass Valeria gar nicht versteht, wie übel man ihr hier mitspielt, dass sie einfach vergnügt zu der Musik tanzt.
Dass der Provinz­ka­pellen-Sänger diese Frau so bloß­stellt und zum Gespött macht, dahinter ist nichts erkennbar als die dumpfe Aggres­sion der Meute gegen eine Liebe, die nicht den allge­meinen Regeln, der Vernunft und der Schein­hei­lig­keit gehorchen will. Es ist ein spießiges, klein­li­ches Besudeln.
Es ist der Moment, in dem einem spätes­tens klar wird, dass in der Welt von Der Knochen­mann die Mörder eigent­lich noch zu den sympa­thi­scheren Menschen gehören. Denn freilich, ihre Taten sind gewalt­tä­tiger, sie richten mehr blei­benden Schaden an. Aber sie alle haben wenigs­tens ein trif­ti­geres Motiv, hinter ihnen steckt zual­ler­min­dest nach­voll­zieh­bare Kalku­la­tion, meist aber sogar Leiden­schaft.

Es ist, viel­leicht hätte man das gleich zu Anfang sagen sollen, Der Knochen­mann über­ra­schen­der­weise ein großar­tiger Film über die Liebe. Kein »Liebes­film« freilich, nicht eines dieser kodi­fi­zierten, rituellen Märchen vom Glück in der Zwei­sam­keit nach Über­win­dung einiger Schwie­rig­keiten. Aber eben ein Film über die Liebe, und als solcher ein viel tieferer und realis­ti­scherer, als man eigent­lich einem pech­kohl­ra­ben­schwarzen Krimi über Menschen­ver­wursch­tung zuge­stehen würde.
Alles wäre nicht passiert, wenn es die Liebe nicht gäbe, heißt es gleich zu Anfang. Dazu gucken wir durchs Fenster ins Zimmer eines Puffs. Trotzdem ist der Film hier nicht einfach ironisch: Dass die Liebe, die Liiie-heee-be an allem Schuld ist, das zieht er durch. Er macht sich nur keine Illu­sionen, was »Liebe« ist, was »Liebe« heißt.
Handelsüb­liche Romantik sucht man vergeb­lich in diesem Film, in dem weder die Menschen schön sind, noch die Welt, in der sie leben. Da ist die Liebe des halb­im­po­tenten Wirts Löschen­kohl zu der osteu­ropäi­schen Prosti­tu­ierten, die all die schreck­li­chen Ereig­nisse in Gang setzt. (Josef Bier­bichler hat endlich wieder einmal einen Regisseur gefunden, der von ihm nicht einfach nur die große, laute, wilde Sepp Bier­bichler-Show will, sondern ihn zwingt, sich zurück­zu­nehmen, eine Rolle wirklich diffe­ren­ziert zu gestalten – und so ist dieser Löschen­kohl einer seiner impo­san­testen, furcht­ein­flößendsten Auftritte seit langem.) Da ist der Flirt des Brenner (Josef Hader, eh genial) mit Löschen­kohls Schwie­ger­tochter (die großar­tige Birgit Minich­mayr gnadenlos auf Provinz­gast­wirtin getrimmt): Dieser ist es mindes­tens so sehr wie die Aussicht auf Geld, der den Brenner – vom Ex-Poli­zisten und Privat­de­tektiv nun zum Inkasso-Eintreiber abge­stiegen – dazu bewegt, länger in dem Gasthof nach einem verschwun­denen Schuldner herum­zu­schnüf­feln, als ihm guttut. Und da sind die offenbar stets wech­selnden Affären von Berti (Simon Schwarz), inzwi­schen Brenners Chef, der keine Ahnung hat, wonach er sucht, bis es ihn findet.
»Liebe«, das ist in Der Knochen­mann immer eine Mixtur aus Abhän­gig­keiten, Macht­spielen, Begehr­lich­keiten, Zwängen und, ja, auch Hoff­nungen. Glück, das ist da höchstens ein Neben­faktor, und selten ein bestän­diger. Und wo schließ­lich die Erfüllung von Wünschen droht, da bindet der Film sie, in einer der wahrhaft unver­schäm­testen Sexszenen der Film­ge­schichte, gnadenlos zurück ans Anato­mi­sche. Der Mensch ist Fleisch – auch wenn er das im Alltag tunlichst vergessen sollte, um Leben zu können.

Wolf Haas hat einst nach Komm, süßer Tod in einem Interview gesagt: Er wusste, dass Wolfgang Muren­berger als Regisseur der richtige Mann für die Aufgabe war, nachdem die beiden sich beim ersten Treffen erstmal nur eine Stunde einträchtig darüber unter­halten hätten, was für eine Scheiß­idee es sei, Haas' Brenner-Krimis verfilmen zu wollen. Denn deren Daseins­grund und Haupt­at­trak­tion war ja von Anfang an immer die geniale Insze­nie­rung ihrer einzig­ar­tigen Erzäh­ler­stimme – und genau die muss der Film als aller­erstes opfern.
Weil Haas und Muren­berger sich dessen so bewusst waren, konnte schon Komm, süßer Tod vergessen lassen, dass es eigent­lich keine innere Notwen­dig­keit gab zu einer solchen Nach­schöp­fung in einem anderen Medium. Bei Silentium hatten sie dann noch mehr Mut bewiesen, den Stoff als Film neu zu erfinden. Und mit Der Knochen­mann haben sie sich vollends frei­ge­schwommen. Erstmals darf man hier ernsthaft die frev­le­ri­sche Frage stellen, ob nicht sogar die Kino­va­ri­ante gegenüber der Vorlage das merklich größere, tiefere Kunstwerk geworden ist.
Vom Roman ist nicht viel übrig­ge­blieben außer ein paar Konstel­la­tionen, Figuren und Motive. Was bei der filmi­schen Neukom­po­si­tion aus diesen Elementen – die klaus­tro­pho­bi­scher, psycho­lo­gi­scher ausfällt – dafür vor allem dazu­ge­kommen ist, ist ein wirk­li­ches Thema: Eben die Liebe.
Man hat das Gefühl, dass nun, im dritten Anlauf, die schon immer starke Symbiose von Haas, Hader und Muren­berger endgültig perfek­tio­niert ist. Dass nun die Stärken aller voll, und in voller Einhel­ligg­keit ausge­spielt werden und man das beste aller drei Welten zu einer Welt vereinigt bekommt – entfernt vergleichbar viel­leicht mit dem glück­li­chen Zusam­men­treffen der zwei über­lap­penden, aber keines­wegs deckungs­glei­chen künst­le­ri­schen Kosmen von Coen-Brüdern und Cormack McCarthy in No Country for Old Men.
Der Knochen­mann ist soviel mehr als nur ein tiefst schwarz­hu­mo­riger Krimi: Wie alle wirklich großen Komödien geht er konse­quent dahin, wo es wehtut. Wie alle wirklich großen Komödien versteht er, dass Humor nicht zuerst eine Sache der Gescheh­nisse ist, sondern eine Sache des Blicks, der Betrach­tungs­weise. Der Humor von Der Knochen­mann ist nicht vordring­lich deswegen so finster, bitter und genial, weil er sich an solch makaberem Treiben entzündet. Sondern deshalb, weil er ein Humor der exakt richtigen Distanz ist: Ein Humor, der entblößt, wie lächer­lich das mensch­liche Streben und Sterben, Leben und Lieben ist, wenn man einen Schritt zurück­tritt davon, und der dennoch nahe genug dran­bleibt, um mitfüh­lend zu sein.

Denn bei aller Schwärze, und auch, wenn die Handlung gegenüber dem Roman vom Aufblühen des Frühlings in die tote Erstar­rung des Winters verlegt wurde: Der Knochen­mann ist nie zynisch, und er ist keines­wegs ein hoff­nungs­loser Film.
»Love Hurts« ist, durchaus program­ma­tisch, ein anderes Lied, das die Faschings­ball-Band anstimmt. Und in der Tat: Was ist schon ein abge­trennter Finger gegen ein gebro­chenes Herz? Was ist schon das Malmen einer Flei­sch­ab­fall-Mühle gegen das Mahlwerk der Gefühle, mit dem einem die Liebe die Innereien durch­walken kann?
Aber auch wenn die Liebe schmerz­haft sein und schlimme Dinge mit den Menschen anstellen kann, auch wenn sie zu Dumm­heiten verführt und sie manchmal verhee­rende Konse­quenzen nach sich zieht: Der Knochen­mann hat trotzdem Vers­tändnis dafür, dass sie bei all dem solch eine unaus­rott­bare Kraft ist – und sich manchmal in den uner­war­tetsten Konstel­la­tionen Bahn bricht.
Vor allem aber hat der Film Sympathie für jene Bedau­erns­werten, die in ihren Bann geraten sind. Denn bevor sie Täter werden, sind sie im Grunde selbst ersteinmal Verletzte. Ihre Grau­sam­keiten sind ihm letztlich lieber als die kalte Bosheit des Faschings­band-Knilchs (dem man noch besten­falls notgeile Eifer­sucht als Motiv unter­stellen könnte).
»Love Hurts«. Aber wem etwas wehtut, der spürt wenigs­tens noch etwas. Der lebt wenigs­tens – noch...