USA 1999 · 118 min. · FSK: ab 16 Regie: Phillip Noyce Drehbuch: Jeremy Iacone Kamera: Dean Semler Darsteller: Denzel Washington, Angelina Jolie, Queen Latifah, Michael Rooker u.a. |
Jeder Tatort ist ein Reich der Zeichen. Wer das Puzzle zusammensetzt und zu lesen versteht, wird den Täter finden. Crime-Szene-Profiler nennt man in Amerika jene Spezialisten des Grauens, die das komplexe Patchwork der Signale verstehen und entschlüsseln können. Ein solcher Bone Collector ist auch Lincoln Rhyme (Denzel Washington), Detective bei der Polizei von New York.
Am Anfang kommen die Alpträume: Lincoln steht vor der Silhouette von Manhattan, er geht hinein in einen düsteren Schacht, kriecht vorwärts, bis er eine Leiche entdeckt sich selbst. Im gleichen Moment zerschlägt ihm ein Pfeiler das Rückgrat.
Als er schweißgebadet aufwacht, findet Lincoln sich vom Hals ab gelähmt, nur einen Finger kann er noch bewegen – gerade genug für die Computermaus, die ihn über zwei Monitore mit der Welt out there verbindet.
Dennoch illustriert Philip Noyce Thriller The Bone Collector nun nicht die simple Geschichte eines Menschen, der – gezwungenermaßen – ganz in virtuellen Surrogaten (und schöneren Träumen) aufgeht. Denn Lincoln leidet unter seinem Zustand, der ihm noch nicht einmal die Möglichkeit läßt, selbstbestimmt zu sterben.
Den zweiten, nun folgenden Alptraum haben viele schon einmal geträumt: Ein Paar steigt in ein Taxi, der Fahrer fährt einen anderen Weg, alle Türen und Fenster sind rettungslos verschlossen. Die Reise endet in der Dunkelheit, und der Serienkiller, der in New York sein Unwesen treibt, hat zwei neue Opfer gefunden.
Als eine junge Streifenpolizistin Amelia (Angelina Jolie), die Leiche des Mannes findet, macht sie alles richtig: sie sichert die Spuren vor den tapsigen Kollegen, zieht
treffende Schlüsse; sie »hat den Instinkt« des Profilers. Zuerst widerwillig, erklärt sich Amelia schließlich bereit, mit ihrem schwerstbehinderten Kollegen die Killerjagd zu beginnen.
Wieder ist es also die tausend Mal erzählte Geschichte vom Mann und dem Mädchen auf der Jagd nach der Bestie. Wieder ist er der, der das Denken übernimmt, während sie für den Instinkt zu stehen hat. »Folge Deinem Instinkt« sagt ihr Lincoln schon früh, »Er ist eine besondere Gabe. Wirf ihn nicht weg.« Aber weil der Mann hier tatsächlich nur aus Kopf besteht, weil Mausklick, Mikrophon und zwei Monitore alles übernehmen müssen, was sonst der Körper leisten könnte, ist Der Knochenjäger trotzdem ein stellenweise ungewöhnlicher Film geworden.
Denn es kommt zu Quasi-Verschmelzung der beiden Detektive. Weil der ans Bett gefesselte Lincoln den Tatort nur vermittelt wahrnehmen kann, muss der Mann in den Körper der Frau schlüpfen, muss er sich ihrer Sinne und ihres Instinktes bedienen. Per Funk diktiert er Amelia jeden Schritt, sie muß lernen, exakt zu tun, was er sagt, um mit ihm eins zu werden, wie er zu denken, und so das Labyrinth der Taten in eine Ordnung der Dinge zu verwandeln.
Bald genügt ein schlicht-gebieterisches
»trau mir einfach«, damit sie sich von ihm noch in dunkelste Kellerräume und freudianische Höhlen führen läßt und stellvertretend Gefahren bestehen muss – mehr und mehr wird Amelia zum body double Lincolns.
So handelt es sich bei The Bone Collector genaugenommen um eine Cyborg-Phantasie im Gewand eines Thrillers, um die filmische Variante eines Computerspiels. Wie Lara Croft hat Amelia volle Lippen, lange Beine und eine üppige Oberweite, wie die »Tomb
Raider«-Heldin ist sie männlich gekleidet und Projektionsfläche wie williges Werkzeug des Herrn am Joystick.
Gerechtfertigt wird diese Versklavung der Frau einerseits moralisch: schließlich muss Lincoln nicht nur neuer Lebensmut eingehaucht werden, er ist und bleibt vor allem ein Experte, auf den die Polizei angewiesen ist, Amelia wirkt allenfalls als seine aufgeweckte Hilfskraft. Und Not kennt bekanntlich kein Gebot: Genrebedingt läßt der Killer in regelmäßigen Abständen neue Opfer originell plaziert zu Tode kommen, auch er ist auf seine Art ein »Knochenjäger«, der Lincoln ähnlicher
ist, als dieser lange Zeit ahnt. Der Zwang ihn zu fassen, ist Grund genug, die Frau auf eine hochkomplexe Biotech-Prothese zu reduzieren.
Die zweite Rechtfertigung ist subtiler: Auch die spröde Amelia, wir ahnen das gleich zu Beginn, leidet unter einem Trauma. Einst entdeckte sie die Leiche ihres Vaters. Die Stufen der Überwindung an den verschiedenen Tatorten, die für zugleich Stufen der Qual sind, machen aus dem Horrortrip zugleich auch eine Reise zu sich selbst, die sie von den
eigenen Belastungen befreit.
So ist der Film, der sich in blaugrauen atmosphärisch dichten und genauen Bildern zwischen Gleisen, Brücken, Tunneln und Hafenkais Manhattans abspielt, tatsächlich über lange Zeit ihre Geschichte. Erst gegen Ende, als sich der für Aufmerksame keineswegs unvorhersehbare Showdown ereignet, flüchtet sich Noyce in sehr schlichte Happy End-Abläufe. Amelia darf zwar werden, was sie ist, doch geschieht dies eben doch erst durch die Hilfe des Mannes, mag er auch noch so gehandicapt sein.
Ganz ein wenig Freiheit läßt Regisseur Noyce seiner Amelia allerdings schon: Als Lincoln an einem der Tatorte von ihr verlangt, einer Leiche die Hände abzusägen, verweigert sie sich: »No, fuck you.« Auch das – und Amelia weiß es in diesem Moment ganz genau – kann Lincoln nicht.