Deutschland 2019 · 99 min. · FSK: ab 12 Regie: Leonie Krippendorff Drehbuch: Leonie Krippendorff Kamera: Martin Neumeyer Darsteller: Lena Urzendowsky, Jella Haase, Lena Klenke, Elina Vildanova, Anja Schneider u.a. |
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In die Haut eintauchen | ||
(Foto: Salzgeber) |
Drei junge Mädchen stehen hier von Anfang an im Fokus. Es geht aber eigentlich vor allem um zwei Schwestern: Jule und Nora, und hier wiederum die jüngere Nora. Die Mutter trinkt zu viel und kümmert sich zu wenig, die Mädchen sind sich selbst überlassen. Sie wohnen irgendwo am Kotti, in einem Hochhaus mit Blick steil runter auf den Platz. Fast zu schön, um wahr zu sein. Mitten in dem Teil des Multi-Kulti-Berlin, in dem jeder Mensch einen anderen Hintergrund hat, andere Interessen und Geschmäcker, in dem Berlin wie ein Märchen ist. Und wie im Märchen gibt es hier nicht nur gute Feen, sondern auch böse Hexen, undurchsichtige Zauberer, Geheimnisse, verbotene Zonen, Drogen, Gangs, Gewalt…
Nora hat gerade eine schwierige Phase: Noch Kind, spürt die 14-Jährige doch, dass sich ihr Körper verändert. Nora ist schüchtern, aber auch selbstbewusst und eigensinnig. In diesem Zustand der Ambivalenz erlebt sie die erste Liebe – mit allen Unsicherheiten.
Durch einen dummen Zufall bricht Nora sich die Hand und kann nicht mit auf Klassenfahrt. Stattdessen muss sie in der Klasse ihrer älteren Schwester in die Schule gehen. Es sind wichtige zwei Wochen; es ist der Wahnsinns-Sommer 2018, in der Stadt ist es total heiß. Die Luft hat 37 Grad, ist also genauso warm wie der Körper. Die Haut bildet keine klare Grenze zum Außen mehr, und auch ansonsten steigt die Hitze. Ausgerechnet jetzt bekommt Nora zum allerersten Mal ihre Tage. Es fällt ihr
nicht leicht, damit umzugehen. Zwischen Scham und Stolz fühlt sie sich verloren, und ihrer Schwester hat gerade genug eigene Probleme, um die Empathie für Nora aufzubringen.
Die, die ihr stattdessen hilft, ist Romy, ebenfalls eine Neue: Zweimal sitzen geblieben, noch ein paar Mal von irgendwelchen Schulen geflogen. Jella Haase spielt diese Figur ohne Vulgarität als eine Wilde, Unabhängige, trotzdem auch Verletzliche.
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Regisseurin Leonie Krippendorff hat vor ein paar Jahren schon einen ausgezeichneten Film gemacht: Looping. Der blieb leider ein bisschen unter dem Radar der deutschen Film-Öffentlichkeit, eher Festivalgängern und einem zumindest halbprofessionellen Filmpublikum zugänglich. Hauptdarstellerin von Looping war Jella Haase. Und Haase spielt auch in diesem Film die zentrale Rolle – gewissermaßen ein Medium, eine Madeleine, einen Stein des Anstoßes. Das heimliche Zentrum des Films. Haase hat, wie sie zuletzt erst in Berlin Alexanderplatz bewies, ganz ausgezeichnete Fähigkeiten als Darstellerin und noch viel wichtiger: Sie hat Charisma.
Leonie Krippendorff aber beweist mit diesem Film, dass sie zu den interessantesten Regisseurinnen in Deutschland gehört – wenn sie nicht sogar die allerinteressanteste ist. Denn ihr Kino ist Bewegungs- und Dynamikkino, es ist Kino, das in den meisten Momenten ganz auf Bilder setzt, und das diese Bilder nicht immer sauber ausmalt. So oft in Deutschland ist Kino Malen nach Zahlen – hier nicht. Kokon und Looping sind nicht perfekt, glücklicherweise, aber sie sind Kunst, ohne sich zu verrenken. Eher hat man den Eindruck, dass Krippendorff Filme aus dem Bauch raus macht.
Peter Körte hat in der FAS darauf aufmerksam gemacht, dass Krippendorff laut »Variety« zu den »10 Europeans to Watch for 2020« gehört. Und, wie Körte schreibt, »natürlich auch über 2020 hinaus.«
Ganz genau!
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Zugegeben: In manchen Momente spürt man in Kokon kurz die Absicht, spürt wohl auch die Hand irgendwelcher Redakteure, Förderdramaturgen, Publikumsvertragsanwälte und anderer Besserwisser, die Erklärungen und Eindeutigkeiten brauchen. Aber das bricht die Regisseurin ganz gut und nimmt ihren Film vom Gleis der Logik und Moral. Es sind die überschüssigen Momente, die in diesem Film vor allem glücklich machen, die Schneisen, Fenster und Offenheiten.
Unter seiner Oberfläche – nicht nur weil der Schauplatz hier kurz vorkommt – erinnert dieser Film ein bisschen an Prinzessinnenbad, mit dem vor bald 15 Jahren Bettina Blümner Furore machte. Das waren noch Zeiten, als ein Film zum Ausdrucksorgan einer ganzen Stadt und ihres Lebensgefühls wurde. Ob Berlin heute überhaupt noch so ein Lebensgefühl hat, da kann man persönlich seine Zweifel haben. Hier aber ersteht es für den langen Augenblick eine Films auf.
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27. Juli 2018 – »die längste Mondfinsternis des 21. Jahrhunderts«. Blutmond. Dies ist die Stunde, in der auch Werwölfe erwachen und andere Metamorphosen sich vollziehen. Der Film spielt nur mit dieser und anderer Verwandlungsmotivik.
Nicht um queeres Erwachen geht es hier, nicht um Partikularinteressen und Identitäten, sondern um Allgemeines, um die universale Heterogenität des Erwachsenwerdens, wenn man nichts weiß und vieles ahnt, immer wieder glaubt der einzige Mensch auf Erden zu sein, der gar nichts checkt. Das merkt man besonders gut an Lena Urzendowsky und Lena Klenke, die die beiden Schwestern spielen. Auch Klenkes Jule ist einsam, verzweifelt, weil sie ihren Weg erst sucht, von der Mutter keine
Hilfe bekommt, zugleich sich ein bisschen als Ersatzmutter um Nora kümmern muss, das auch will, aber doch umgekehrt deren Hilfe braucht.
In einem Nebenerzählstrang geht es sehr differenziert genau um dies: Kümmern und Mütterlichkeit, also die Seite der Frau, auf die auch junge Mädchen oft reduziert werden – zum Beispiel im Unterricht, wo man mit einer dauernd schreienden, computerchipgesteuerten Baby-Puppe das »Muttersein« und Verantwortung üben (oder verlernen)
soll.
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Was tatsächlich am allerbesten gelungen ist, ist die Inszenierung von Dingen, ist die Beiläufigkeit des Schweren, Großen. Jederzeit hält die Regisseurin mit Hilfe ihres Kameramanns Martin Neumeyer alles im Fluss, in Bewegung, im Gleichgewicht, vertauscht die Perspektiven, wechselt zwischen den Ebenen, lässt es trotzdem nie an Orientierung der Zuschauer dort fehlen, wo es nötig ist. Die Perspektive ist ganz und gar die der Jugendlichen, die Erwachsenen sind nur Randfiguren, sonderbare ETs von einem anderen Planeten. Die Hauptfigur der Geschichte ist ganz klar Nora; trotzdem bekommen die Zuschauer ein Gefühl für die anderen, eine Vorstellung, was deren Sorgen und Nöte sind. Gelegentlich, aber nie aufdringlich setzt Krippendorff Elemente von Handyaufnahmen, Youtube-Clips, und Instagram-Bildern ein. Es geht hier nicht um modische Gimmicks, sondern darum, das Lebensgefühl ihrer Figuren in ästhetische Erscheinung zu fassen.
Das gleiche gilt auch für den Titel: Er spielt natürlich auf Nora an, die gerade vom Mädchen zur Frau wird – zugleich hat Nora den Tick, sich Raupen exotischer Falter in Einmachgläsern zu halten. Ein sehr schöner deutscher Film. Seltsam, im guten Sinn.