Rumänien/Luxemburg 2019 · 109 min. · FSK: - Regie: Alexander Nanau Drehbuch: Alexander Nanau, Antoaneta Opris Kamera: Alexander Nanau Schnitt: Dana Bunescu, George Cragg, Alexander Nanau |
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Beklemmende Demonstration der Verwundbarkeit moderner Gesellschaften | ||
(Foto: ARD) |
Es ist schon ein wenig verblüffend, verfolgt man den Preisregen, der seit seiner Premiere im September 2019 im Rahmen der Internationalen Filmfestspiele von Venedig auf Alexander Nanaus Dokumentation Kollektiv – Korruption tötet niedergegangen ist. Und noch jetzt liegt Colectiv gut im Rennen weiterer Preise für den besten Dokumentarfilm des Jahres 2020, nachdem er schon zahlreiche Preise wie den Europäischen Filmpreis 2020 oder den Boston Society of Film Critics Awards 2020 für die Dokumentarfilmsparte erhalten hat – und nun auch noch für Rumänien ins diesjährige Oscar-Rennen gehen wird.
Sieht man sich Colectiv, der noch bis Ende Februar in der ARD-Mediathek abrufbar ist, jedoch an, weicht die Verblüffung purem Entsetzen. Denn Colectiv ist eins der vielleicht erschütterndsten Zeitdokumente unserer Gegenwart mit ihrer populistischen Politik und ungezügeltem Neoliberalismus, ein Spiegelbild, das fratzenhafter nicht sein könnte.
Dabei erzählt Colectiv vordergründig erst einmal nur die tragische Geschichte des Brandes im Bukarester Club „Colectiv“, bei dem Ende Oktober 2015 27 Menschen getötet wurden. Weit mehr der 180 Verletzten starben jedoch erst danach in verschiedenen Krankenhäusern, und zwar nicht an ihren Brandverletzungen, sondern durch Keime, die sich aufgrund eines stark verdünnten Desinfektionsmittels ungehindert verbreiten konnten.
Wie und warum das passieren konnte, erzählt Nanau mit ruhiger, aber persistenter, immer an seinen Protagonisten und ihrem Umfeld haftender Kamera. Fast nebensächlich wird der eigentliche Brand abgehandelt, in dem nach allen Sicherheitsstandards ein Konzert mit pyrotechnischen Effekten dieser Art gar nicht hätten stattfinden dürfen, ein Unfall, der im Kern bereits das bereithält, was dann folgen soll – ein Versagen des Staates auf allen Ebenen, der bodenlose Strukturen korrupten Verhaltens nicht einmal in Ansätzen unterbinden kann.
Colectiv weiß nicht mehr als der Betrachter. Erst im Laufe eines investigativen Krimis entfaltet sich Schritt für Schritt mit fast schon maschineller Präzision die ganze Wahrheit. Nanau konzentriert sich zu Anfang auf den Investigativjournalisten Cătălin Tolontan, der mit seinen Recherchen die skandalösen Verhältnisse soweit bloß stellt, dass die damalige Regierung abtreten und einer Übergangsregierung weichen muss. Ab diesem Zeitpunkt folgt Nanau auch der Arbeit des neu eingesetzten technokratischen Gesundheitsministers Vlad Voiculescu, läßt Überlende und Whistleblower aus den Krankenhäusern zu Wort kommen, die alle händeringend nur die eine Frage stellen: Warum sind wir so tief gesunken? Und dabei die Antwort selbst schon ahnen: weil es allen nur ums ein geht. Ums Geld.
Das mag simpel und nicht sonderlich überraschend klingen, doch die faktische Konzentration und Struktur, die Colectiv aufbietet, um zu erklären, und zwar aus allen nur denkbaren Perspektiven, zeigt vor allem, wie verwundbar moderne Gesellschaften und ihre demokratischen Strukturen sind. Und wie schwer es ist, die maroden Strukturen zu reparieren, denn wie soll man nur „Schweinen“ das „Tanzen“ beibringen? Vor allem wird in dieser glasklaren Präsentation aber auch deutlich, wie austauschbar und universal diese Skandale sind – man denke etwa an das gravierende österreichische Systemversagen bzgl. Wirecard und der Ibiza-Affäre oder an den Trinkwasserskandal in Flint in den USA.
Die Stärke von Colectiv ist es, nicht nur die schwachen Stellen bloßzulegen, die „Wunden“ der Gesellschaft, sondern gleichzeitig auch den „Heilungsprozess“ zu demonstrieren. Für Nanau ist das aber nicht nur die „vierte Gewalt“, also eine unabhängige Presse, sondern auch eine intakte Zivilgesellschaft, die sich zwar bei den nächsten Wahlen wieder einer populistischen Regierung „hingibt“, aber dennoch hinterfragt und aktiv am Heilungsprozess der Gesellschaft teilnimmt, die zwar schnell vergibt, aber nicht vergisst.
Kollektiv – Korruption tötet ist bei zahlreichen Streaming-Anbietern sowie bis Ende Februar 2021 in der ARD-Mediathek abrufbar.