Kolyma

Deutschland 2017 · 89 min. · FSK: ab 12
Regie: Stanislaw Mucha
Drehbuch:
Kamera: Enno Endlicher
Schnitt: Stanislaw Mucha, Emil Rosenberger
Mucha ist wieder da!

Roadtrip auf der Straße der Knochen

Kolyma ist ein Erin­ne­rungs­film. Erinnert wird an das Leiden der Millionen von Menschen, die in zahl­rei­chen Arbeits­la­gern im Norden von Russland, zwischen Magadan und Jakutsk, umge­kommen sind. Viele von ihnen waren unschuldig und ohne jegliche Gerichts­ver­fahren zur Zwangs­ar­beit verur­teilt.

Mit dem zentral­per­spek­ti­vi­schen Bild des soge­nannten »Tor zur Hölle« beginnend, dem Hafen in der Bucht von Magadan, wo die Häftlinge ankamen, begibt sich die Filmreise auf die Straße, die Kolyma heißt, wie der Fluss in der Region. 2025 Kilometer lang. Diese endlose Straße wurde von den Arbeits­la­ger­sträflingen in der stali­nis­ti­schen Zeit gebaut. Sie fängt mitten im Nichts an und führt gefühlt nirgendwo hin. Kilo­me­ter­weise Taiga, keine Möglich­keit zu fliehen.

Regisseur Stanislaw Mucha sammelt mit seinem Roadtrip auf, was aus dieser in Russland tabui­sierten Zeit übrig geblieben ist. Die Antwort lautet: sehr wenig. Das betrifft nicht nur die paar Über­le­benden – die meisten starben in den Lagern an den Folgen der Inhaf­tie­rung oder wurden ermordet –, sondern auch die Erin­ne­rungs­spuren, wie Gebäude der Gefan­genen, die kaum oder auch nur schlecht erhalten blieben. Dieses Kapitel der sowje­ti­schen Geschichte ist nach wie vor kaum aufge­klärt und verstaubt in den geheimen Archiven.

Man hat das Gefühl, dass das Wort »Kolyma« nur bei der alten Gene­ra­tion einen unaus­lö­sch­li­chen Schmerz hervor­ruft. Die Jugend von heute weiß scheinbar kaum etwas von diesen grausamen Tatsachen. So sagt das Wort »GULag« der relativ jungen blon­dierten – mit geschminkten Wasch­bäraugen – Hotdog-Verkäu­ferin gar nichts. Sie versteht das vom Filme­ma­cher ausge­spro­chene »GULag« als »Gulasch«, was einer­seits eine gewisse Ironie in den Film – im Bezug auf das Fleisch­ge­richt – bringt und somit meta­pho­risch »die Straße der Knochen« stark versinn­bild­licht. Auch ist das ein typischer Mucha-Effekt, der schon in seinen früheren Filmen, etwa in Zigeuner seine Prot­ago­nisten absicht­lich sagen ließ, diese Bezeich­nung sei ihnen die liebste. Ande­rer­seits bedeutet diese Verdrän­gungs­stra­tegie im heutigen Russland das unver­meid­liche Sterben des kollek­tiven Gedächt­nisses an die grausamen Zeiten. Statt des Arbeits­la­ger­opfer-Denkmals sieht der Zuschauer im Film die repe­ti­tive Lenin-Denk­mal­büste. Es bleibt unauf­ge­klärt, wer und wie viele unter dieser »Straße der Knochen« liegen. Es gibt keinen Schul­digen an den Millionen, die da begraben liegen. Statt­dessen wird die Vergan­gen­heit verdrängt, was der Film deutlich mani­fes­tiert.

Der Film spricht nur von den Knochen, er zeigt sie nicht. Die Kamera fängt eine Abfolge der Bilder von der Kolyma-Straße ein, die man als den längsten Friedhof bezeichnet, der Inter­views mit Augen­zeugen, die zum Teil von ihren trau­ma­ti­sierten Lager­auf­ent­halten nicht sprechen wollen, und der Bilder von Konzert­auf­tritten der zeit­genös­si­schen Jugend, die das heutige Russland in ihren Popsongs als das beste Land auf Erden mit stolzem Patrio­tismus und naiver Euphorie besingt. Diese Abfolge der Aufnahmen erscheint teilweise als Kontrast­pro­gramm, als ein grotesker Wider­spruch in sich, der ange­sichts der heutigen absurden Realität in diesem Land nicht zu über­winden ist.

Abgesehen davon, dass wenige Zeugen über die im Lager verbrachte Zeit – ange­sichts ihrer Traumata – erzählen wollen, empfinden sie zusätz­lich gewisse Ängste vor der heutigen Regierung, offen darüber zu sprechen, obwohl es um das von ihnen selbst Erlebte und längst Vergan­gene geht. So kommt es einem vor, dass sich in diesem Land – in Bezug auf den Diskurs der Menschen­rechte – kaum etwas verändert hat.

Der Film zeigt sehr unter­schied­liche Personen. Unter denen sind Über­le­bende aus den zahl­rei­chen Straf­ar­beits­la­gern, Flücht­linge aus der Ostukraine, die, ohne es zu wollen, dorthin verwiesen worden sind, Künstler, die mit Eis arbeiten und mit ihren Eisskulp­turen in vielen Ländern große Bekannt­heit erlangt haben, verrückte, (heimlich) mit Hoch­span­nung expe­ri­men­tie­rende »Wissen­schaftler«, die mit ihren Strom­ver­su­chen eine Verjün­gung des mensch­li­chen Körpers verspre­chen, Leute, die Putin als den besten Regie­rungs­chef für ihr Land betrachten, und die, die an nichts mehr glauben. Das Spektrum ist groß und bunt. Das Ganze wird mit den kitschigen Bühnen­auf­tritten vermischt. Diese Abwechs­lung sorgt für Dynamik und zeugt zum anderen von unglaub­lich pola­ri­sierten Koexis­tenzen im Koly­mage­biet. Einige leben mit ihren trau­ma­ti­schen Erin­ne­rungen, die Anderen verkaufen sorglos Hotdogs im Kiosk und werden vermut­lich nie erfahren, dass sie jeden Tag durch die »Straße der Knochen« zur Arbeit laufen.

Nach der Hälfte der Filmzeit wird eine Schaukel gezeigt, die von den Gefan­genen für ein Komman­danten-Kind gebaut wurde. Von dieser Schaukel konnte das Kind auf das Arbeits­lager hinun­ter­sehen. Die Kamera erstarrt eine Weile auf dieser erhalten geblie­benen Schaukel, die wie ein Schlüs­sel­bild in diesem Film zu sein scheint. Denn dabei erscheinen die unglaub­li­chen, grau­saumen Bilder, mit denen dieses Kind aufge­wachsen sein muss. Man stellt sich die Frage, was aus ihm geworden ist, ob es verrückt wurde von dem, was es gesehen hat. Oder ist es zu jemandem geworden, der dieses Land mit Peitsche mitre­giert und somit die Vergan­gen­heit über­schreibt?

Eine weitere Person, die beim Zuschauer einen Schauder auslöst, ist der Mensch, der eine Art »Museum der Lage­rat­tri­bute« in seinem eigenen Haus aufbe­wahrt. Er scheint mit dieser vergan­genen Arbeits­la­ger­welt, die er etwas vernebelt und fast roman­tisch wahrnimmt, irgendwie verschmolzen zu sein. So spricht er von den Erleb­nissen in den Arbeits­la­gern als einer »Schule des Lebens«, von Freund­schaften und Liebe, die in Arbeits­la­gern Platz hatten. Die Lager­exis­tenz klingt in seinen Worten wie eine verdiente gerecht­fer­tigte Strafe für Häftlinge. Diese verklärte Art und Weise der Wahr­neh­mung lässt den Zuschauer unglaub­würdig herun­ter­schlu­cken und nach­fragen, wie viele es mit solchen Ansichten in diesem Land gibt? Diese verne­belten Bilder finden ihre Korre­spon­denz in der verne­belten Straße der Knochen, die die Kamera durch die LKW-Fens­ter­scheibe festhält. Der Nebel, der aus dem LKW-Fenster zu sehen ist, ist ein bild­li­cher Ausdruck dafür, wie viele Fragen, wie viele Lücken es gibt, was die Straf­ar­beits­lager betrifft. Keiner kann über die Opfer­zahlen Genaueres berichten. Alle bewegen sich im Nebel. In jedem Sinn dieses Wortes.

Oder bezieht sich der Nebel in Kolyma bildlich auf Nacht und Nebel, den Film von Alain Resnais, der sich in einem ähnlichen Diskurs bewegt?
Der Film pola­ri­siert die Inter­views derje­nigen, die in ihrer Ober­fläch­lich­keit gedan­kenlos durch die Zeit streifen, mit denen der Augen­zeugen, die das Leiden und die Schrecken der Arbeits­lager am eigenen Leibe erlebt haben. Am Ende des Films wird ein alter Mann gezeigt, der beim auf dem Akkordeon gespielten Lied über die Arbeits­lager in Kolyma seine Tränen nicht aufhalten kann und anschließend eine empörte, emotio­nale Rede über damals und heute hält. Sein Auftritt zum Schluss des Films fühlt sich an wie ein gnaden­loses Urteil sowohl über die Vergan­gen­heit, in der er vermut­lich als ein Unschul­diger in ein Arbeits­lager gekommen ist, als auch über die Gegenwart, in der er, als Veteran und als Opfer der damaligen Zeit, in unwür­digen, ärmlichen Verhält­nissen lebt. »Ich schäme mich für mein Land«, sagt er wütend in die Kamera. Schmerz und Verlust stehen ihm in sein Gesicht geschrieben.

Kolyma erscheint als authen­ti­sches filmi­sches Erin­ne­rungs­do­ku­ment über die bis heute immer noch teilweise verschwie­gene Zeit der sowje­ti­schen Repres­sionen. Diese Verschwie­gen­heit zeugt letzt­end­lich davon, wie wenig sich in Russland verändert hat. Und es scheint, als würde das so bleiben, mit den poli­ti­schen Opfern im zeit­genös­si­schen Russland.