Deutschland 2012 · 93 min. · FSK: ab 6 Regie: Aron Lehmann Drehbuch: Aron Lehmann Kamera: Cristian Pirjol Darsteller: Robert Gwisdek, Jan Messutat, Thorsten Merten, Rosalie Thomass, Michael Fuith u.a. |
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Kühe statt Pferde, Widerstand statt Anpassung |
»Und wie denn die Wahrscheinlichkeit nicht immer auf Seiten der Wahrheit ist, so traf es sich, daß hier etwas geschehen war, das wir zwar berichten: die Freiheit aber, daran zu zweifeln, demjenigen, dem es wohlgefällt, zugestehen müssen.«
(Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas [1])
Es muss am Stoff selbst liegen. Wie auch sonst könnten fast zeitgleich zwei Verfilmungen von Heinrich von Kleists großartiger Novelle »Michael Kohlhaas« in die Kinos kommen und dabei in fast allen Dingen ungleicher, wenn nicht sogar »ungerechter« bestückt sein – und damit die Handlung von Kleists Geschichte um Recht, Gerechtigkeit und Widerstand auf einer filmwirtschaftlichen Metaebene weiterspinnen?
Bevor im September unter der Regie von Arnaud des Pallières und einem schauspielerischen Großaufgebot von Mads Mikkelsen bis Bruno Ganz eine geradlinige, intensive, wuchtige und immer wieder werkgetreue Verfilmung zu sehen sein wird, lässt sich in Aron Lehmanns kleinformatigem HFF-Abschlussfilm Kohlhaas oder die Verhältnismäßigkeit der Mittel nachvollziehen, was passiert wäre, wenn Arnaud des Pallières am ersten Drehtag die Gelder gestrichen worden wären.
Denn genau das ist Lehmanns völlig überraschender Film-im-Film-Plot. Statt seine Pläne einer pompösen Verfilmung der Kleistschen Kohlhaas-Novelle im Sinne des Pallières aufzugeben, richtet sich Regisseur Aron Lehmanns Alter ego mit Unterstützung des Bürgermeisters in dem Dorf Speckbrodi ein und versucht mit dem verbliebenen Rumpfteam und der Hilfe von Laiendarstellern des Dorfes den Film zu Ende zu drehen. Auf völlig neue Weise und radikaler als jemals gedacht. Zwar erinnern die intensiven Diskussionen des Filmteams um den Sinn des Drehs und ihre auch ansonsten desperate Lage immer wieder an Wim Wenders gestrandetes Filmteam im Stand der Dinge, aber schon einen Moment später ist das vergessen, konturiert sich stattdessen auf fast allen Ebenen eine fulminante Umsetzung des Kohlhaas-Stoffes heraus. Immer schwieriger lassen sich im Laufe des Films Kleists Novelle und ihr Anliegen um Orientierung, wenn alles zusammenbricht – der Kampf eines Pferdehändlers, der sich wehrt, weil ihm keine Rechtssicherheit mehr gewährt wird – von dem Anliegen des Regisseurs um die Fertigstellung seines Films trennen. Eine inhaltliche, fantastische Achterbahnfahrt, die auch ohne die dringend angeratene Lektüre der Novelle hervorragend funktionieren dürfte.
Doch es gibt noch mehr zu bestaunen. Zum einen die der Doppelbödigkeit der Filmerzählung mehr als angemessene, großartige schauspielerische Umsetzung und Lehmanns ganz im Sinne Kleists vollbrachte Großtat, die von Kleist propagierte Nähe von Tragödie und Komödie fast fühlbar zu machen. Und auch für Kleists Abwendung von der polaren Welt, dem ewigen Gut und Schlecht wird noch genauso Raum gefunden wie die faszinierende Spiegelung von Regisseur Lehmann in Kleist selbst, dessen Verzweiflung um Geld und Anerkennung schließlich zu seinem Selbstmord führte.
Fast zu viel des Guten in diesem auf allen Ebenen flirrenden, Spaß machenden Film? Gut: was Lehmann letztlich allein schon durch die gebrochene Erzählung nicht leisten kann, ist Kleists hochmodernen, politischen Kern zu bedienen: die Schwierigkeit des Umgangs mit versagenden politischen Institutionen und der im Folgenden zwingenden Frage, wann und wie Terrorismus angebracht ist. Eine Frage, die vielleicht nicht allein durch Lehmanns Kohlhaas, sondern in einem denkbaren Triple Feature mit Pallières' Kohlhaas-Version und der 1969 realisierten, etwas holprigen und aufgesetzt gegenwartsbezogenen Umsetzung des Stoffes von Volker Schlöndorff (Michael Kohlhaas – der Rebell) abgedeckt werden könnte. Ganz im Sinne von Kleists immer experimenteller, befreiender und bewegender Dramaturgie.
[1] Heinrich von Kleist, Michael Kohlhaas – aus einer alten Chronik (1810). S. Fischer Verlag, 2009.