Körper und Seele

Teströl és lélekröl

Ungarn 2017 · 116 min. · FSK: ab 12
Regie: Ildikó Enyedi
Drehbuch:
Kamera: Máté Herbai
Darsteller: Alexandra Borbély, Géza Morcsányi, Réka Tenki, Zoltán Schneider, Ervin Nagy u.a.
Eine der ungewöhnlichsten Liebesgeschichten der letzten Jahre

Wie Verwundete verwundern können

Das Herz, eine sengende Flamme begeh­renden Lichts,
das Herz, in gewal­tigen Wolken aus Schnee
doch geborgen, während die Flocken vergehen zu Nichts,
wie endlose Flammen einer bren­nenden Stadt deren Glutarmee

– Ágnes Nemes Nagy

Das war der Anfang, dieses Gedicht, sagt Ildikó Enyedi immer wieder, wenn sie über ihren Film, über Körper und Seele spricht. Und mit jedem erneuten Lesen dieses Gedichts der großen unga­ri­schen Lyrikerin Ágnes Nemes Nagy wird deut­li­cher, was Enyedi meint, erschließt sich der Rhythmus, wird klar, dass es Enyedi in ihrem Film tatsäch­lich gelungen ist, Nagys Lyrik in filmische Sprache zu über­setzen. Was für ein Unter­fangen und was für ein erstaun­li­cher Erfolg! Denn immerhin hat Enyedi, die 1989 mit ihrem Film Mein 20. Jahr­hun­dert als große Hoffnung des unga­ri­schen Kinos galt, mit Körper und Seele nicht nur über­ra­schend die dies­jäh­rige Berlinale gewonnen, sondern auch einen Film geschaffen, der weit über das lyrische Moment hinaus, eine der unge­wöhn­lichsten Liebes­ge­schichten der letzten Jahre erzählt.

Und unge­wöhn­lich und verschlossen wie ein Gedicht ist nicht nur die Liebes­ge­schichte, ist gleich zu Beginn schon das Personal von Enyedis Film. Da ist zum einen der intro­ver­tierte, an einem Arm gelähmte Endre (Géza Morcsány), der einen Schlachthof in Budapest leitet und da ist Maria (Alexandra Borbély), die neue Qualitäts­kon­trol­leurin, die wegen ihres unnah­baren Auftre­tens von Arbeitern und Manage­ment zunehmend skeptisch betrachtet wird. Zwar versucht Endre die Kluft zu Maria durch Gespräche während der gemein­samen Mittag­essen in der Kantine zu über­winden, doch erst, als beide fest­stellen, dass sie Nacht für Nacht gemeinsam den gleichen Traum träumen, in dem sie sich als Hirsche in einem Wald begegnen, entspinnt sich tatsäch­lich so etwas wie ein fragiler Dialog, der Keimling einer Beziehung.

Das mag ein wenig surreal, »gebrauchs­ly­risch« oder ein wenig zu sehr nach C.G. Jungs kollek­tiven Unbe­wussten klingen, doch was Enyede daraus macht, ist alles andere als das. Denn neben der poeti­schen Geschichte einer Annähe­rung in Realität- und Traumwelt erzählt Enyedi mit kris­tall­klarem und scho­nungs­losem Blick auch den ganz normalen Alltag in einem Buda­pester Schlachthof, fokus­siert auf andere Ange­stellte und webt sogar einen Krimi­nal­plot ins Gefüge, der es ihr erlaubt, auch politisch zu werden und die noto­ri­sche, selbst­ver­s­tänd­liche Korrup­tion im unga­ri­schen Alltag zu thema­ti­sieren.

Auch dabei gelingt es Enyedi fast spie­le­risch, ihr Haupt­thema erneut zu variieren und zu zeigen, dass nicht nur ihre Helden Maria und Endre von der modernen Gesell­schaft verletzt wurden und ihr Bestes tun, gerade über ihre Versehrt­heiten weiter mit ihr zu koope­rieren und zu überleben, sondern das sich auch hinter den anderen Lebens­li­nien eine zweite, verbor­gene Linie versteckt, eine Art Schat­ten­linie, die im Grunde die große Chance im Leben aller Betrof­fenen ist. Kommt sie zum Glühen, wird sie aus dem Dunkel des Unbe­wussten gerissen, lässt sich auch die Realität zu einem erträg­li­cheren Rück­zugsort gestalten.

Da Enyedi bei dieser subtilen Grat­wan­de­rung zwischen Realität und Traum – Körper und Seele – nie Plot und Dialog aus den Augen verliert, bleibt Körper und Seele bis zum Ende auch ein span­nender Film, der nicht zuletzt über seine über­ra­genden Haupt­dar­steller so gut funk­tio­niert. Denn neben der beein­dru­ckend luzid agie­renden Alexandra Borbély über­rascht vor allem Géza Morcsány, der seine Rolle derartig charis­ma­tisch ausfüllt und mit einem latent trockenen Humor unterlegt, dass es fast wie für Enyedis Film geschrieben klingt, dass Morcsány bislang kaum als Schau­spieler gear­beitet hat, sondern zwanzig Jahre lang den wich­tigsten unga­ri­schen Verlag leitete und die unga­ri­sche Lite­ra­tur­szene entschei­dend mitge­prägt hat.

Über­ra­schend ist aller­dings nicht nur Morcsány biogra­fi­sche Notiz, sondern ist viel­leicht noch viel mehr die Lebens­linie Ildikó Enyedis selbst, die mit Körper und Seele nach 18 Jahren »Auszeit«, in der sie an der Hoch­schule für darstel­lende Künste unter­rich­tete, Dreh­bücher schrieb, die nicht reali­siert wurden, und an der unga­ri­schen Adaption von In Treatment für HBO mitar­bei­tete, wieder ins Kino zurück­ge­funden hat – und damit gewis­ser­maßen »ihre« Schat­ten­linie zum Leuchten gebracht hat.