Kundun

USA 1997 · 133 min. · FSK: ab 6
Regie: Martin Scorsese
Drehbuch:
Kamera: Roger Deakins
Darsteller: Tenzin Thuthob Tsarong, Gyurme Thetong, Tencho Gyalpo, Sonam Phuntsoik u.a.

Nach Bekannt­werden der Nachricht, Martin Scorsese würde einen Tibet-Film drehen, wurden Befürch­tungen laut, man müsse wohl jetzt damit rechnen, daß der Dalai Lama (darge­stellt von Harvey Keitel oder Joe Pesci) die chine­si­schen Besatzer mit einem freund­li­chen »You talkin' to me, mother­fu­cker?« empfängt, bevor er zu Base­ball­schläger und Schraub­stock greift.
Erfreu­li­cher­weise darf in zweierlei Hinsicht Entwar­nung gegeben werden: Erstens zieht in Kundun der Dalai Lama nicht als Raging Bull durch die Mean Streets des tibe­ti­schen Hochlands; und zweitens konnte sich Martin Scorsese dennoch auch bei diesem unge­wohnten Stoff im wesent­lichsten Punkt treu bleiben – sein neuer Film ist wieder ein absolutes Meis­ter­werk.

»Tell me my story!« »Again?« – Kundun erzählt die Geschichte des gegen­wär­tigen (vier­zehnten) Dalai Lamas von frühester Kindheit bis zur Flucht ins indische Exil 1959. Das Drehbuch von Melissa (Mrs. Harrison Ford) Mathison entstand in enger Zusam­men­ar­beit mit Seiner Heilig­keit, dem Dalai Lama, persön­lich, und auch an der übrigen Produk­tion waren zahl­reiche Exil-Tibeter maßgeb­lich beteiligt, um für Authen­ti­zität zu sorgen – was am augen­fäl­ligsten bei der Besetzung ist, die sich fast ausschließ­lich aus Amateur­schau­spie­lern tibe­ti­scher Abstam­mung rekru­tiert. Halbwegs bekannte Gesichter finden sich nur unter den Darstel­lern der Chinesen (Robert Lin als Mao; Kim Chang), Stars bleiben einem erspart.

Dies alles ist nicht etwa Zeichen dafür, daß Scorsese an objektive histo­ri­sche Wahrheit glaubt, zu der man durch Fakten­treue finden kann, und daß er Kundun zur drögen Geschichts­stunde macht oder zum gutge­meinten poli­ti­schen Pamphlet. Sondern es zeigt, daß er seinem Gegen­stand genug Respekt entge­gen­bringt, um sich wirklich auf ihn einzu­lassen; und daß er sich nicht damit begnügt, alles in stan­dar­di­sierte Hollywood-Form zu gießen, sondern daß er nach filmi­schen Lösungen sucht, die dem Wesen des Darge­stellten gerecht werden.
Kundun ist der Versuch, eine für uns fremde Sicht­weise der Welt nicht einfach zu zeigen oder zu erklären, sondern sie unmit­telbar erfahrbar zu machen. Kundun fühlt sich ein in ein anderes Denken und setzt dies um in ein ästhe­ti­sches Erlebnis. (Ohne daß der Film dabei vergißt, daß er sich als Fremder nähert und daß er nur über die Apparatur des Kinos vermit­teln kann – daß sein Zugang keinen Anspruch auf objektive Gültig­keit erlaubt.)

Kundun ist kein Film der großen Emotionen und kein Film, der Charak­tere oder Story in den Vorder­grund stellt. Kein Film, der viel erklärt oder Zusam­men­hänge und Moti­va­tionen ausbreitet. Die Ereig­nisse geschehen einfach, passieren im wahrsten Sinn des Wortes. Und dies mit gutem Grund. Denn in Kundun geht es um Menschen, deren Sicht der Welt gar nichts am Hut hat mit aktiven Helden, die das Schicksal bezwingen; mit Vorwärts­streben auf ein greif­bares Ziel. Und wie diese Menschen, so bezieht auch Kundun aus dieser Haltung ein über­ra­schende, enorme Kraft. Ist man anfangs noch etwas irritiert von der Art des Filmes, wartet auf Spannung und Rührung, gerät man doch sehr bald in seinen Sog. Denn Kundun ist ein ungemein sinn­li­cher Film, der es versteht, durch Farbe, Rhythmus, Klang in seinen visi­onären Bann zu ziehen, den man nach einiger Zeit fast wie in Trance erlebt. Ein gran­dioser (aber nie ober­fläch­li­cher oder belie­biger) Rausch der Bilder und der Musik.
Ein wichtiges Element ist dabei eben auch der Sound­track von Philip Glass, dessen Minimal Music selbst­ver­s­tänd­lich ideal geeignet ist, um die Art zu unter­s­tützen, wie der Film Zeit erleben läßt: nicht in der unserer Kultur gewohnten Weise eines stets in die Zukunft gerich­teten Pfeils, voller Erwartung und Ungeduld, sondern eher als Kreis, in dem jeder Moment nur die aktuelle Erfahrung einer ewigen Wieder­kehr ist.

Letzlich ist Kundun eine Art reli­giöses Erlebnis aus Zelluloid – eine proje­zier­bare Epiphanie. Deshalb auch ein Film, der allen wärmstens empfohlen sei – gleich, ob sie sich für Tibet und Buddhismus inter­es­sieren oder nicht. Denn Kundun leistet das viel­leicht Wich­tigste, was Kino überhaupt schaffen kann: Er lehrt uns für wenigs­tens zwei Stunden, mit neuen Augen zu sehen.