Schweiz/Belgien 2022 · 82 min. · FSK: ab 6 Regie: Delphine Lehericey Drehbuch: Delphine Lehericey Kamera: Hichame Alaouie Darsteller: François Berléand, Kacey Mottet Klein, La Ribot, Jean-Benoît Ugeux, Luc Bruchez u.a. |
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In Choreographie überführte Tanztherapie... | ||
(Foto: Arsenal) |
»If I leave here tomorrow
Would you still remember me?
For I must be traveling on now
‚Cause there’s too many places I’ve got to see«
– Free Bird, Lynyrd Skynyrd
So langsam schlägt das US-amerikanische Hippie-Vermächtnis des Forever-Young-Gedankens auch in Europa seine Wurzeln. Waren es bis vor kurzem vor allem amerikanische Filme, die sich um die Ü-60-Klientel und ihre Anliegen bemüht haben – man denke an Filme wie Book Club – Das Beste kommt noch oder Brady’s Ladies, in denen sich ältere Frauen von ihren Altlasten befreien und sich ein zweites Mal im Leben emanzipieren – rollt nun auch eine europäische Old-Ager-Filmwelle über uns hinweg. Angesichts der Soziographie für Kinobesucher, nach der es vor allem die Ü-50er sind, die überhaupt noch ins Kino gehen, ist das natürlich kein Wunder. Aber die Vielfalt ist dennoch erstaunlich, denn allein schon an Beispielen wie Im Taxi mit Madeleine, dem erst letzte Woche erschienenen In voller Blüte oder Die goldenen Jahre ist an sozialen Schichten so ziemlich alles mit dabei, doch ähnlich wie in den amerikanischen Filmen geht es vor allem um eins: irgendwie jung bleiben und sich vor allem noch einmal selbst erfinden und unabhängig bleiben.
Auch Delphine Lehericeys französisch-schweizerische Tragikomödie Last Dance, die 2022 mit dem Publikumspreis beim Filmfestival in Locarno ausgezeichnet wurde, kümmert sich um dieses wichtige Themenfeld.
Im Zentrum ihrer Geschichte steht der von François Berléand (Die Kinder des Monsieur Mathieu) verkörperte 75-jährige Germain, der nach dem Tod seiner fürsorglichen Frau Lise (Dominique Reymond) zunehmend von der Dauerumsorgung seiner Kinder genervt ist und sich kurzentschlossen eines alten Versprechens von Lise und ihm annimmt, nach dem der Überlebende einen wichtigen Teil des zuerst Verstorbenen (er-)leben soll. Da Lises großes Hobby der moderne Tanz war, bittet Germain in Lises Tanzkompanie darum, für Lise einzuspringen und führt von nun an ein Doppelleben, das er so gut es geht vor seinen Kindern verbirgt.
Die daraus entstehenden Spannungen und komischen Verwicklungen werden mit gutem Timing und kleinen, zärtlichen Slapstickmomenten ausgespielt, ohne das ernste Anliegen zu verraten, den auch körperlichen Emanzipationsprozess von Germain. Das liegt auch daran, dass der Film sich auf eine ernstzunehmende Choreographie einlässt, die von der spanisch-schweizerischen Choreographin La Ribot dirigiert wird, die sich im Film selbst spielt und tatsächlich aus Germains Trauergeschichte eine Choreographie entwickelt, die zu Anfang von ihrem Ensemble erst kritisch hinterfragt, dann aber angenommen wird.
Das ist an sich schon spannend, aber spannend ist dann vor allem die körperliche und damit auch psychische Transformation von Germain, die François Berléand mit grotesker Würde kongenial umsetzt und in die weiteren Nischen der Erzählung überführt – vor allem in jene, die von seinem Sohn handelt, der hier klassisches »Über-Kinder«-Verhalten praktiziert, das natürlich genauso verheerend in seiner Wirkung ist wie jenes von Helikopter-Eltern auf ihre Kinder.
Das ist in seiner erzählerischen Dichte dann eigentlich schon ausreichend, braucht es die weiteren Subplots um ein mögliches homosexuelles Liebesverhältnis mit der rechten Hand von La Ribot genauso wenig wie den fingierten Nachhilfeunterricht für eine Schülerin aus der Nachbarschaft oder die romantisch versteckten Liebesbriefe in einer Bücherei, hätte stattdessen noch mehr Tanz und Choreographie dem Film vielleicht besser getan. Doch François Berléand stemmt diese kleinen Ecken und Kanten einer an sich ja runden Tragikomödie so spielerisch und souverän hinweg, dass die darin liegende süffisante Ironie den Überfluss fast schon wieder wert ist.