Italien/CH/D 2014 · 111 min. · FSK: ab 0 Regie: Alice Rohrwacher Drehbuch: Alice Rohrwacher Kamera: Hélène Louvart Darsteller: Maria Alexandra Lungu, Sam Louwyck, Alba Rohrwacher, Sabine Timoteo, Agnese Graziani u.a. |
||
Land der Bienen: Land der Wunder |
Milch und Honig fließen zwar in dem ärmlichen Landhaus in der toskanischen Provinz. Paradiesische Zustände herrschen hier allerdings nicht. Höchstens für die zwei kleinen Mädchen, die fröhlich von Pfütze zu Pfütze springen, sich halbnackt im Schlamm wälzen und die umliegenden Felder zu ihrem Spielplatz erklärt haben. Ihre beiden älteren Schwestern, Gelsomina und Marinella, müssen hingegen im Familienbetrieb fleißig mitanpacken. Denn jede Arbeitskraft zählt. Land der Wunder, der zweite Spielfilm der italienischen Regisseurin Alice Rohrwacher, zeigt eine Familie, die in einer Art Kommune auf dem Land haust. Fernab von Zivilisation und Zeitgeist. Sie leben von der Bienenzucht und dem Honig, den sie aus den Waben klopfen. Immer am Existenzminimum.
Die Hausgemeinschaft selbst gleicht einem Bienenstock. Zu Vater, Mutter und den vier Töchtern gehören Coco, eine deutsche Aussteigerin und Martin, ein krimineller Jugendlicher aus Deutschland, den die Familie aufnimmt, um zusätzlich etwas Geld zu verdienen. Mit ihrer Bienenzucht pflegen sie eine alte Tradition, die aufrechtzuerhalten nicht ganz einfach ist. Sie widersetzen sich neuartigen Produktionsregeln und Laborstandards und kämpfen emsig um ihr Überleben. Das Bienensterben, hervorgerufen durch Pestizide, steht für den Zustand der Kommune: Sie sind die letzten einer aussterbenden Spezies, die an ihrem Traum von einem selbstbestimmten Leben und Selbstversorgung in der kapitalistisch orientierten Gegenwart festhalten. Eine naive Illusion von Freiheit? Land der Wunder greift den Bienen-Topos auf, der seit Maeterlincks Essay »Das Leben der Bienen« von 1901 in Literatur und Film beliebt und vielzitiert ist. Von Victor Erices Der Geist des Bienenstocks (1973) über den Berlinale Gewinner 2010 Bal – Honig oder den 2012 erschienen Dokumentarfilm More Than Honey: Der Bienenstaat wird als Blaupause für die Vorstellungen von der Konstruktion der menschlichen Gesellschaft und ihrer Interaktion herangezogen.
Geschäftig schwirren die einzelnen Kommunenmitglieder in dem Film aus und ein, zusammengehalten werden sie von der 12-jährigen Gelsomina. Sie ist das eigentliche Familienoberhaupt. Eine besondere Stärke des Filmes liegt in der präzisen Beobachtung und Herausarbeitung der Geschwisterkonstellationen. Dies liegt vielleicht auch daran, dass Rohrwacher selbst das Drehbuch zu ihrem Film schrieb und ihre eigene Schwester Alba Rohrwacher für die Rolle der verhuschten, aber liebevollen Mutter besetzte. Maria Alexandra Lungu spielt die charismatische, verschlossene Gelsomina, die als Älteste ihre Schwestern kommandiert. Obwohl der grummelige, etwas grobe Vater Wolfgang (André Hennicke) ihr gegenüber zuweilen laut wird, ist sie seine engste Vertraute und Verbündete. Sie ist diejenige, die die Bienenschwärme von den Bäumen schüttelt und die Verantwortung über die Honig-Abfüllmaschine trägt, wenn der Vater nicht da ist. Sie ist es auch, die den Familienbetrieb gegen den väterlichen Willen beim Fernsehwettbewerb »Il paese delle meraviglie« anmeldet, um der Familie aus der finanziellen Notlage zu helfen: Gelsomina ist die Bienenkönigin. Zwei Mal wird der Zuschauer im Laufe des Films Zeuge ihres kleinen Kunststücks: Mit beiden Händen bedeckt sie ihr Gesicht. Ganz langsam schieben sich nach und nach ihre Finger auseinander. Nase, Mund und Stirne des Mädchens kommen zum Vorschein. Regungslos blickt sie nach vorne, verzieht keine Mine. Dann öffnet Gelsomina behutsam den Mund. Eine Biene fliegt heraus uns setzt sich friedlich auf ihre Wange.
In stimmungsvollen Bildern fängt die Kamera die Reize des toskanischen Landlebens ein und begleitet die quirligen Familienmitglieder in ihrem Alltag. Beim Gemüseernten, beim kurzen Erfrischungsbad am See, in der Scheune. Die Landschaft ist stets in toskana-typische Erdfarben getaucht, sanfte grüne Wiesen und gelbe Rapsfelder verleihen der Gegend einen märchenhaften Zauber. Auch die Klamotten im 90-ties Look wirken ein wenig aus der Zeit gefallen, der Realität entrückt. Ohne falsche Verklärung zeigt der Film die Schönheit des Lebens im Einklang mit der Natur. Und stellt gleichzeitig die Frage nach dem Umgang mit Fortschritt und Tradition. Durchaus kritisch entlarvt er die alternative Lebensweise der Eltern, die an längst überholten Mustern und Lebensweisen festhalten. Land der Wunder ist auch ein Film über das italienische Fernsehen, das dem Zuschauer in Form von Monica Bellucci als Moderatorin und Märchenfee rückwärtsgewandte Ideale präsentiert: In der Fernsendung »Il paese delle meraviglie« wird der traditionellste Familienbetrieb der Toskana gekürt. Der Preis ist Geld und eine Luxus-Kreuzfahrt. Die Fernsehzuschauer im Film sind für Gelsominas Bienen-Wunder nicht empfänglich. All diejenigen, die Land der Wunder sehen, womöglich schon.