Großbritannien 2021 · 117 min. · FSK: ab 16 Regie: Edgar Wright Drehbuch: Edgar Wright, Krysty Wilson-Cairns Kamera: Chung-hoon Chung Darsteller: Anya Taylor-Joy, Thomasin McKenzie, Diana Rigg, Matt Smith, Jessie Mei Li u.a. |
||
Final Girl auf Party-Tour | ||
(Foto: UPI) |
Der erste Schritt in die Traumwelt ist getan! Freudestrahlend hält Eloise (Thomasin McKenzie) die Zulassung zum Fashion College in London in der Hand. Nun kann sie sich in der englischen Hauptstadt ganz ihrer Leidenschaft widmen: den Swinging Sixties. Ihr Zimmer auf dem Land wirkt schon wie ein Museum. Audrey Hepburn lächelt als Poster von der Wand, Kinks-Platten drehen sich rund um die Uhr, sie selbst hüpft im maßgeschneiderten Kleid aus alten Zeitungen durch das Haus, die Gesten ihrer großen Vorbilder imitierend. Was könnte da die Stimmung jetzt noch trüben?
Zu Beginn von Edgar Wrights neuem Film Last Night in Soho kann man es noch gar nicht glauben, dass man es hier mit einem Horrorfilm zu tun hat. Wobei eine solch eindeutige Zuordnung nur die halbe Wahrheit ist. Sein Werk ist eher eine Mischung aus Versatzstücken unterschiedlicher Genres, Motive aus Coming-of-Age, Mystery und Film noir treffen hier aufeinander. Das Ergebnis verspricht interessant zu werden, nicht nur weil hier unterschiedliche Stilrichtungen zusammenkommen, sondern einiges mehr.
Zunächst einmal Eloise und das reale London. Nach der ersten Euphorie muss sie feststellen, dass der Zauber dieser Stadt wohl eher der eigenen Nostalgie entsprungen ist. Schon in der ersten Nacht ist sie nicht mit Stil, Klasse und Lebenslust konfrontiert, sondern mit chauvinistischen Taxifahrern, gemeinen Kommilitonen und zügellosen Saufpartys. Für die junge Dame ist diese Ernüchterung schwer zu verdauen und so flieht sie von der Wohnheim-Realität lieber in ein altes Appartement. Die strenge Vermieterin (Diana Rigg) und die surrende Leuchtreklame vor dem Fenster sind hundertmal erträglicher als die geist- und herzlosen Mitstudenten. Zudem ist die Inneneinrichtung noch ganz im Stil der geliebten Sechziger gehalten, aus dem Studium kann also doch noch etwas werden.
Doch das richtige Eintauchen in diese Zeit beginnt erst, als sich Eloise dem Schlaf in die Hände gibt. In ihren Träumen befindet sie sich auf einmal im Soho ihrer Lieblingsdekade, wo sie die aufstrebende Sängerin Sandie (Anya-Taylor Joy) begleitet. Nacht für Nacht wird sie Zeugin von deren vermeintlichem Aufstieg zum Ruhm, den ihr der Vorzeige-Gentleman Jack (Matt Smith) verspricht. In diesen Szenen bemerkt man ganz klar Edgar Wrights gutes Händchen für stimmungsvolle Inszenierung. Licht, Schnitt und Musik ziehen die Zuschauer sofort mit ins Geschehen, in eine gleichzeitig strahlende und verruchte Szenerie. Genauso geht es auch der jungen Fashion-Studentin, die sich optisch immer mehr dem Idol ihrer Träume angleicht. Nebenbei bemerkt, braucht es auch seine Zeit, bis man merkt, dass es sich hier überhaupt nicht um die gleiche Schauspielerin handelt. Auch dieses Wechseln von Illusion und Realität vollzieht Last Night in Soho auf spannende und mitreißende Weise.
Daneben sind es vor allem die Coming-of-Age-Elemente, die den Film interessant machen. An der Figur von Eloise zeigt sich das Geworfenwerden von der unschuldigen, jugendlichen Traumwelt in die harte Realität. Der erste schmerzhafte Schritt ins Erwachsenwerden ist getan. Nun enttarnt sich aber auch die Traumwelt als solche. Die bunten Sechziger hat sich Eloise ganz aus Musik, Filmen und Fotos zusammengebaut, mit der historischen Wahrheit hat das wenig zu tun. Diese Erkenntnis ist vielleicht noch ein Stück erbarmungsloser und genauso zeigen sich auch bald die nächtlichen Fahrten ins Show Business in einem anderen Licht.
Sandie (beziehungsweise Eloise) muss erkennen, dass Jack nicht wirklich ein charmanter Talentsucher ist, sondern rücksichtsloser Zuhälter. Nacht für Nacht zeigt sich nun die Schattenseite des Star-Wunsches. Immer mehr ekelhafte Männer betreten die Bühne, hinter den Kulissen offenbart sich das Elend und die Retro-Reise der Studentin wird zum Horrortrip. Auch die Tage bleiben von dieser Desillusionierung nicht verschont. Schlimmer noch, die Zeichen mehren sich, dass in den Straßen des gegenwärtigen Soho wirkliche Gefahr für sie lauert. Ohne Frage hat ein rätselhafter alter Mann (Terence Stamp) damit zu tun, der Eloise unangenehme Avancen macht. Gekrönt wird diese Zuspitzung des Unheimlichen durch eine blutige Erscheinung des Nachts. Das anfangs so sympathische Schlafgemach war wohl offensichtlich der Schauplatz eines brutalen Mordes. Das Opfer kann ohne Frage nur Sandie gewesen sein. Eloise wird unterdessen immer paranoider, schließlich kann sich diese Geschichte – jetzt wo die Grenze zwischen Realität und Fiktion immer nebliger wird – nun wiederholen. Schließlich ist sie inzwischen Sandies getreues Ebenbild.
Mit dem Wechsel ins Dunkle ändert leider auch der ganze Film seinen Ton von vielversprechend in oberflächlich. Stilistisch bleibt er zunächst auf einem hohen Niveau, was jedoch nicht kaschiert, dass die Geschichte nicht gerade viel Tiefe besitzt. Das beginnt schon mit der Figur von Eloise, die vom lieben und leider naiven Mädchen zur Hysterikerin wird. Ihre psychologische Zeichnung und die ihres Widerparts beschränkt sich in erster Linie darauf, Opfer des schönen Scheins zu sein. Das wirkliche Mitfühlen reduziert sich auf die erste Hälfte von Last Night in Soho, danach wird es immer deutlicher, dass sie lediglich das Final Girl ist, das sich in alter Horror-Tradition bis zum Finale durch das Szenario quält. Auch alle anderen Figuren sind in erster Linie austauschbar, beginnend bei Michael Ajao als besorgtem Verehrer bis zu Terence Stamp als geheimnisvollem Mystery Man. Selbst der Stil wechselt von zwielichtiger Neonlicht-Hölle in Richtung Geisterbahn, wenn Eloise auf einmal von grauen Phantomen verfolgt wird. Last Night in Soho wird so zum Gruselkrimi mit #metoo-Schlagseite. Zu Letzterer hat Edgar Wright jedoch auch nichts Neues zu erzählen.
Es ist schwierig, über diesen Film ein klares Urteil zu fällen. Wirklich langweilig wird er zwar an keiner Stelle, aber mehr als ein vorbeiziehendes Spektakel ist er trotz interessanter Ansätze nicht. Wright weiß, wie er diese Geschichte ordentlich in Szene setzen kann, das wirkliche Erzählen bleibt dabei jedoch auf der Strecke. Mehr als bekannter Horror mit gut gemeinten Ideen bleibt am Ende nicht – auch wenn er noch so unterhaltsam ist.
Ein junges Mädchen aus der Provinz kommt ins schillernde London unserer Gegenwart. Es dauert nur einen einzigen Tag und ihre ganze Welt hat sich verändert. Alles scheint ihr offenzuliegen. Der Sixties-Popsong »Downtown« von Petula Clark liefert den Soundtrack für diese Hauptfigur. Sie heißt Eloise, wird Ellie genannt und ist ein Fan der Sechziger-Jahre.
Aus denen scheint auch die richtig klassische alte Londoner Hauswirtin zu stammen, die ihrer neuen Untermieterin gleich am
ersten Tag sagt, dass Männerbesuch nach acht Uhr nicht erlaubt ist. Sie wird von Diana Rigg gespielt, seit der Kult-Serie »Mit Schirm, Charme und Melone« in der globalen Popkultur die Ikone des Swinging-London – obwohl sie vom Film bald nicht mehr so viel hielt und vor allem eine große Theaterschauspielerin war. Mit 82 Jahren spielte die im Herbst 2020 verstorbene Rigg hier in ihrem letzten Film eine ganz besondere Rolle... Allein schon wegen diesem Auftritt ist dieser Film
sehenswert.
+ + +
Aber auch sonst. Der britische Regisseur Edgar Wright hat im Laufe seiner Karriere Kultstatus und eine beachtliche Fangemeinde unter den B-Movie-Fans gewonnen. Die kinetische Energie von Wrights Filmemachen, sein unverwechselbarer Montage-Stil und die elegante Verwendung von Popmusik sind zu Markenzeichen geworden, die viele Kinogänger zu schätzen wissen. Mit Last Night in Soho kommt jetzt Wrights erster Horrorfilm seit Shaun of the Dead ins Kino – ein Film, der zugleich viel mehr ist als ein Genrestück.
Hauptfigur Ellie, verkörpert von Thomasin McKenzie, träumt sich, kaum angekommen, schnell zurück in die Epoche ihrer Sehnsucht: Ins »Swinging London« der Sechziger-Jahre. Doch die alten Zeiten sind vorbei, auch das merkt sie schnell. Ellie will Modedesignerin werden, sie ist ehrgeizig und begabt, aber auch schüchtern und introvertiert. Schon früh fürchtet man daher als Zuschauer, dass sich die junge Frau überfordern könnte. Zumal Ellie über eine geheimnisvolle »Kraft« verfügt: Die Fähigkeit, sich mit der Vergangenheit auf magische Weise zu verbinden, und so – in ihrer Phantasie oder tatsächlich, das liegt im Auge des Betrachters – das London der 1960er-Jahre zu besuchen; oder auch gegen ihren Willen in es hineingezogen zu werden.
Dort, also in der Vergangenheit, trifft sie auf Sandie, eine angehende Sängerin, die offenbar einmal im gleichen Zimmer wohnte wie Ellie. Zunehmend verwandelt sich Ellie in Sandie, mit der sie eine Wahlverwandtschaft verbindet, die sie aber auch ein bisschen um ihr aufregendes Leben beneidet. Ellie identifiziert sich mit ihr und bemerkt bald, dass Sandie massive Probleme hat. Ellie will ihr – über die Zeitmauer von 50 Jahren hinweg – helfen.
Früh am Anfang dieses Films steht also eine faszinierende phantastische Prämisse, die die Haltung des Publikums sofort verändert und seine Aufmerksamkeit bis zur letzten Sekunde des Films fesselt. Ellies »Visionen« oder »Träume« führen zu immer seltsameren und verwirrenderen Nächten im Soho der 1960er Jahre. So stehen Versprechen und Wirklichkeit im Wettstreit in diesem Film. Sinnlich erfahrbar ist das durch eine weitaus melancholischere Version von Petula Clarks Ohrwurm, die Sandie eines Tages singt...
+ + +
So ist dies ein Film, in dem es auch um die Identitätskrisen gleich zweier junger Frau geht, die sich erst selbst noch finden müssen.
Zugleich ist dies über die Hauptfigur der Ellie – Sandie ist letztendlich eher ihr Spiegel und Sehnsuchtspol – auch die Geschichte einer jungen Frau, die unter dem Druck ihres Berufs, ihres Alltags und ihrer persönlichen psychischen Befindlichkeit zwischen selbstgesetztem Erwartungsdruck und Einsamkeit in einem Ozean aus Last
und Verpflichtung fast ertrinkt. Das erinnert – auch in der Entscheidung, die subjektiven Visionen einer Hauptfigur unverfremdet auf der Leinwand zu zeigen und dadurch nahezu »real« erscheinen zu lassen – unter anderem stark an den Ballett-Spielfilm Black Swan von Darren Aronofsky.
Was dem britischen Regisseur Edgar Wright hier allerdings gelungen ist, ist weniger prätentiös und
ehrgeizig als Aronofskys Film. Sondern es ist im Gewand eines B-Movie-Horrorstücks, das gut zu Halloween passt, ein surrealer Film, der zugleich eine anspielungsreiche Hommage an die große Zeit des Free Cinema und der britischen Filmindustrie nach dem Krieg, ein Coming-of-Age-Film mit einer Prise Psychothriller, ist. Ein ästhetisch makelloser Film mit einem fantastischen Soundtrack.
Last Night in Soho ist über die gesamte Laufzeit hinweg unglaublich fesselnd – zugleich wird Edgar Wrights im besten Sinn verrückter Film die Geschmäcker und Meinungen spalten.