Letzter Abend

Deutschland 2023 · 90 min. · FSK: ab 12
Regie: Lukas Nathrath
Drehbuch: ,
Kamera: Philip Jestädt
Darsteller: Sebastian Jakob Doppelbauer, Pauline Werner, Susanne Dorothea Schneider, Nikolai Gemel u.a.
Filmszene »Letzter Abend«
Nichts ist, wie es scheint...
(Foto: Filmwelt)

Gespenster

Lukas Nathrath gelingt in seinem flirrenden, intensiven Kammerspiel die Beziehungs- und Individualitätsparadoxien unserer Gegenwart so gnadenlos wie grotesk zu hinterfragen

»Kalldewey mit Namen, halte keusch zurück den Samen.«
– Botho Strauss, Kalldewey Farce

Manchmal ist es wie verhext, sieht man sich in Pres­se­vor­stel­lungen die banalsten Abgründe deutschen Film­schaf­fens an und erfährt dabei zufällig von einem befreun­deten Film­jour­na­listen von einem Film, für den es gar keine Pres­se­vor­stel­lung gab, der aber endlich einmal nicht diese Abgründe besitze, sondern ganz andere, überaus faszi­nie­rende Abgründe aufzeigen würde.

Und tatsäch­lich ist Letzter Abend es wert, auch noch nach dem Start­termin in den Kinos einen Text hinter­her­ge­schickt zu bekommen. Nicht nur, weil Nathraths Film mit geringstem Budget während umfang­reichster Corona-Auflagen 2020 in einer leer stehenden Hanno­ve­raner Wohnung entstanden ist und inzwi­schen nationale (Max Ophüls Preis für die Beste Regie 2023) und inter­na­tio­nale Preise (First-Look-Award in Locarno) gewonnen hat. Sondern ganz einfach auch, weil Lukas Natrath, der mit Sebastian Jakob Doppel­bauer – im Film in der Haupt­rolle als Clemens zu sehen – ein sehr kluges Drehbuch über ein junges Paar, das von Hannover nach Berlin ziehen will für seinen ersten Langfilm geschrieben hat, und diese kleine, intime Geschichte, die sehr viel über die große Welt erzählt, dann auch noch äußerst souverän insze­niert hat.

Fast ohne Filmmusik – nur zum Ende gibt es so etwas wie ein „Live-Konzert“ – vertraut Nathrath ganz den präzisen Dialogen des Abschieds­abends, den Clemens und Lisa (Pauline Werner) veran­stalten, um ihren Abschied aus Hannover gebührend zu feiern. Der Umzug findet zwar allein wegen Lisas Stelle als Ärztin an der Charité statt, doch soll der Wechsel nach Berlin auch ihrer Beziehung einen Neustart ermög­li­chen, die durch Clemens »Depres­sionen und einen Suizid­ver­such in Schräg­lage geraten ist.«

Nathrath entfaltet diese Geschichte mit allen Tiefen und Untiefen zwar immer wieder mit grotesken, komö­di­an­ti­schen Anteilen, ohne dabei jedoch jemals in den im jungen deutschen Film nur allzu oft und dabei noch schlecht umge­setzten Klamauk oder seichte Ausweich­manöver abzu­driften. Statt­dessen zeigt Letzter Abend die grausame Fratze einer Depres­sion genauso grausam, wie es sich für die Betrof­fenen und Betei­ligten anfühlt, macht aber auch nicht vor den gesell­schaft­li­chen Konven­tionen halt, die diese Realität zu verdrängen versuchen.

Doch Letzter Abend erzählt mit seinem groß­ar­tigen, fast schon hyperreal agie­renden Ensemble, genau so intensiv über verkappte, verkrus­tete Grup­pen­dy­na­miken, die hier über Gäste aufge­bro­chen werden, die eigent­lich gar nicht zu dem Abschieds­abend einge­laden worden sind und den Bezie­hungen und indi­vi­du­ellen Ticks einen fast schon wütenden Zerr­spiegel vorsetzen und die böse Gespenster entlarven, die hinter all den neuen Konven­tionen ums Gendern und ahier­ar­chi­schen Konzepten lauern.

Das erinnert in erfri­schender Weise an Botho Strauss und seinen preis­ge­krönten Thea­ter­klas­siker „Kaldewey Farce“ aus dem Jahr 1982, in dem ebenfalls ein Fremder auf einer Party auftaucht und Konven­tionen, Abspra­chen und Ober­fläch­lich­keiten zu dekon­stru­ieren beginnt. Und über ein ähnliches kammer­spiel-klaus­tro­phobes Setting wie Srauss Botho Strauss ziehen auch Lukas Nathrath und Sebastian Jakob Doppel­bauer die Schrauben immer stärker an und legen die Finger auf unsere gesell­schaft­li­chen Wunden, »die Zers­tört­heit ehelicher und nicht-ehelicher Zwei­er­be­zie­hungen, die Schar­la­ta­nerie der zur Routine gewor­denen Seelen- und Grup­pen­the­rapie, das Versatz­stück­hafte einer sich anti-bürger­lich gebenden Sprache«. So hatte es damals die Jury des Mülheimer Drama­ti­ker­preises zu Strauss' Stück formu­liert. Warum das heute alles so anders und doch so erschre­ckend ähnlich ist? Viel­leicht erzählt davon ja Lukas Nathraths nächster Film.