Kanada 2019 · 107 min. · FSK: - Regie: Sylvain L'Espérance, Marie-Claude Loiselle Produktion: La Distributrice de Films Drehbuch: Sylvain L'Espérance, Marie-Claude Loiselle Kamera: Sylvain L'Espérance |
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Zarte Hinwendung an das Elementare | ||
(Foto: Sylvain L’Espérance / DOK.fest@home) |
Der kanadische Film Le Chant d’Empédocle stammt von dem Regieduo Sylvain L’Espérance und Marie-Claude Loiselle. Die beiden hatten zuvor bereits bei Combat au bout de la nuit (2016) zusammengearbeitet. Der Film beginnt mit dem Bild einer roten, fließenden Magma-Suppe. Wir hören ein Brodeln. Dazu sagt eine Stimme: »Komm, ich werde dir vom Anfang der Sonne erzählen und von den Quellen, aus denen alles entstammt, was es nun gibt. Die Erde und das wellige Meer. Der feuchte Dampf und die Luft der Titanen, die ihren Kreis schnell um alles herum schließt.« Es folgt die Beschreibung der Entstehung von Wesen, die zunächst nur aus einzelnen Köpfen und Gliedmaßen bestehen und die sich zu Menschen, Ochsen und zu anderen Lebewesen zusammensetzen. Auch Vögel, Pflanzen und Fische entstehen.
Der Filmtitel, auf deutsch »Der Gesang Empedokles'«, bezieht sich auf den griechischen Gelehrten gleichen Namens. Für alle, die es nicht wissen: Er lebte im fünften Jahrhundert vor Christus, war Philosoph, Naturforscher, Politiker, Redner und Dichter. Außerdem Arzt, Medizinschriftsteller, Magier und Wahrsager, so weiß es zumindest Wikipedia. Zu den vielen Fragestellungen, denen er sich denkerisch widmete, gehört auch seine Theorie von der Entstehung des irdischen Lebens und der Evolution der Lebewesen. Die Lehre von den vier Elementen – Luft, Feuer, Erde und Wasser – geht auf seine Kappe. Außerdem glaubte er an die Reinkarnation.
Diese vier Elemente finden sich auch in Le Chant d’Empédocle. Die Luft wird in dramatischen Wolkenformationen sichtbar. Feuer zeigt sich als geschmolzenes Erz, das in Formen gegossen wird und als Rutenbündel, die für einen Ritus entzündet werden. Ackerland repräsentiert die Erde, es wird mit einer Spitzhacke bearbeitet. Wasser schließlich kommt als brodelnd an Felsen schlagende Gischt im Meer vor. Überhaupt Felsen! Sie sind an urzeitliche Fossilien erinnernde Formationen. Auch gewaltige Kalksteinformationen schieben sich ins Bild. Eine wird von einem Bagger wie ein gewaltiger Zahn aus einem Kiefer aus einem Bergmassiv herausgebrochen und schlägt krachend im Tal auf. Wir sehen fleckige Steine, Felsen und Gebirge. Wir sehen Kalkstein, der in dünne Scheiben geschnitten wird. Wir sehen monströse Schaufelbagger, die sich in ein Kohleflöz hineinfressen.
Auch die Tier- und Pflanzenwelt sehen wir und wir sehen, wie der Mensch sich diese zunutze macht und wie er selber lebt. Die Gräser eines weiten Feldes wehen in wilden Wellen im Sturm. Die gewaltige Knolle des Stammes eines Olivenbaums ist übersät von großen Wülsten. Bäume werden abgeerntet und die Früchte in einem großen Trog zu einer breiigen Substanz verrührt. Ziegen werden gemolken, per Hand und industriell in einer großen Melkbatterie. Ein Schmied dengelt eine Schafsglocke aus. Arbeiter, die Fässer mit einer bräunlichen Paste umrühren, spielen quengelnde Dudelsäcke und singen ausgelassen dazu. Ein Arbeiter in einem Bergwerk erzählt während seines Mittagessens eine lustige Geschichte. Zwei schwarz angemalte und über und über mit Fellen behangene Männer, die an ihren Gürteln gewaltige Glocken tragen, stützen sich auf Wanderstäbe und schütteln sich rhythmisch so im Kreis, dass die Glocken laut ertönen.
Diese vielschichtigen Bilder werden untermalt von mal dissonanten, mal mystischen, mal bedrohlichen Klängen und Musik. Immer wieder ist auch die Sprecherin vom Anfang zu hören. Sie erklärt jedoch nicht, was sich auf der Bildebene abspielt. Stattdessen erzählt sie zumeist rätselhafte und immer poetische Geschichten. Von einem Wanderer ist dort die Rede, der weder nichts noch das Gegenteil ist. Es wird vom Werden und Vergehen und vom erneuten Erblühen der Natur erzählt. Im letzten Drittel des Films hebt das Geschehen ab. Dann sehen wir nur noch ein Stakkato von Bildern. Ein weißes Pony, einen Unterkiefer, einen fleckigen Stein, zwei miteinander ringende Ziegen, einen glühenden Schmelztiegel und andere Objekte vereinen sich zu einer ekstatischen Bilderflut, welche die ungebremste Lebenskraft zu visualisieren scheint.
Le Chant d’Empédocle handelt von Griechenland. Aber der Film tut dies auf eine Weise, die das übliche Format eines Dokumentarfilms sprengt. Der Film ist dunkel, geheimnisvoll und mystisch. Er transzendiert geradezu das Dokumentarfilmgenre und eröffnet neue Horizonte. In Le Chant d’Empédocle herrscht eine flirrende Atmosphäre, die zu der schillernden Figur des namensgebenden Denkers Empedokles passt. Le Chant d’Empédocle ist magischer Realismus.
DOK.fest München
6. bis 24. Mai 2020
@home
Le Chant d’Empédocle, DOK.international, internationale Premiere bei DOK.fest@home, zum Screening-Link
Filme mieten: 4,50 € (5,50 € mit Soli-Beitrag für die Kinos)
Zeitfenster: 24 Stunden
Festivalflatrate: 50 € (davon gehen 3 € an die Kinos)
Hotline – technische Soforthilfe: 0800 / 5565136