Italien/USA 2017 · 113 min. · FSK: ab 12 Regie: Paolo Virzì Drehbuch: Stephen Amidon, Francesca Archibugi, Francesco Piccolo, Paolo Virzì Kamera: Luca Bigazzi Darsteller: Helen Mirren, Donald Sutherland, Christian McKay, Janel Moloney, Dana Ivey u.a. |
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Politisierung des Vergessens |
»One day up near Salinas, Lord, I let him slip away
He’s lookin' for that home and I hope he finds it
Well, I'd trade all my tomorrows for one single yesterday
To be holdin' Bobby’s body next to mine.«
Kris Kristofferson, »Me and Bobby McGee«»My own impression is that this is an apt time to widely and openly discuss in South Africa the question of self delivery. Should I succeed in my current attempt, those involved are, as far as I am concerned, totally free to discuss this with the outside world. I hope that my death will contribute to a more general discussion than currently exists of the real problems of ageing as well as the question of self delivery. I also hope that it will help to amend current South African law with regard to self delivery. This is enough.« – Karel Schoeman in seinem Abschiedsbrief zu seinem Suizid am 1. Mai 2017
Das tut gut. Selbst in seinem ersten in Amerika und mit amerikanischem Cast realisierten Film bleibt sich der italienische Ausnahmeregisseur Paolo Virzì treu; kreist Virzì auch in Das Leuchten der Erinnerung Themen ein, die ihn schon in seinen letzten beiden Filmen Die süße Gier (2014) und Die Überglücklichen (2016) beschäftigt haben. Filme, die sich vor allem durch ihre subtile Politisierung, einen aufregenden Diskurs über moralische Integrität in unserer zweiten Moderne, die Konfrontation mit psychischen Ausnahmesituationen und einer fast poetischen Verdichtung menschlicher Vergänglichkeit ausgezeichnet haben.
Um diese ungewöhnlich dichte Melange auch für Das Leuchten der Erinnerung zu erzielen, greifen Virzì und seine Drehbuchautoren Francesca Archibugi, Francesco Piccolo und Stephen Amidon allerdings stark in die literarische Vorlage von Michael Zadoorians »The Leisure Seeker« ein: nicht nur veränderte das Autoren-Team die soziokulturellen Hintergründe des alten Ehepaares John (Donald Sutherland) und Ella (Helen Mirren), das sich nicht nur vor den eigenen, immer paternalistischer handelnden Kindern und der zunehmenden Vergesslichkeit des Alters mit ihrem alten Wohnmobil aus dem Staube macht, sondern auch die Reiseroute. Statt die filmisch schon oft bediente Route 66 (von Detroit) ein weiteres Mal zu ventilieren, entscheidet sich Virzì für eine Strecke aus South Carolina heraus nach Key West und gleichzeitig für eine zeitliche Aktualisierung des Romans. Virzìs altes Ehepaar reist damit nicht nur zu Hemingways Haus in Key West, sondern auch in das in den letzten Jahren von Netflix familienhistorisch aufbereitete Bloodline-Land – und zwar während des amerikanischen Wahlkampfs vor etwas über einem Jahr.
Diese Konstellation gibt Virzì nicht nur die Möglichkeit doppelbödige Passagen über die »demente« politische Ausrichtung der Wählerschaft von Trump-Sympathisanten in seinen Plot zu weben, die sich in ihrer Naivität kaum vom »vergesslichen« John unterscheiden, sondern auch ein Roadmovie zu inszenieren, das sich bei aller Kraftanstrengung, die Vergangenheit und damit die vertrauten Persönlichkeiten zu beschwören, den beunruhigenden Fragen des Alterns nicht verschließt. Das offen und gnadenlos hinterfragt, wo die Würde des Lebens aufhört und die Fragen, die Michael Haneke in Liebe rational und kühl beantwortet, völlig konträr poetisch und sinnlich verhandelt.
Deshalb ist Liebe zwar eine, aber vielleicht nicht die treffendste Assoziation, sind es eher Carol Dunlop und Julio Cortázar (dessen Erzählung Las babas del diablo Michelangelo Antonionis Blow Up inspirierte), die sich in einem ähnlichen Alter wie John und Ella im Frühsommer auf den Weg über Frankreichs Autobahnen machten und tagebuchartige Notizen ihrer Reise und Raststättenaufenthalte machten. Auch für Dunlop und Cortázar war es wie für Ella und John eine letzte Reise, beide wussten von ihren unheilbaren Krankheiten, hatten aber noch die Zeit die Eindrücke ihrer Reise in ihrem Reisebericht Die Autonauten auf der Kosmobahn niederzuschreiben. Wie Dunlop und Cortázar sucht auch Virzì über seine Protagonisten nach den Zwischenräumen zwischen den Dingen und fordert wie Cortázar, »die Dinge nicht als gültig, als zwangsläufig zu akzeptieren«.
Das bedeutet auch, dass Virzì Ella und Johns Erinnerungsreisen – die Dia-Abende auf den Campingplätzen des amerikanischen Südens oder die Musik der späten 1960er – immer wieder ambivalente Untertöne beimischt, es zwar Momente gibt, wo beide sich über die Brücke in die Vergangenheit in der Gegenwart treffen, aber immer öfter Ella allein bleibt, sie John erklären muss, was er vergessen hat, was ihre, was seine Vergangenheit gewesen ist.
Diese Gratwanderung – dem Grauen des Alters die Farbe, der Dunkelheit der Hoffnungslosigkeit die nötige Helligkeit abzuverlangen – wird jedoch nicht nur durch Virzìs Bekenntnis zur Ambiguität, seine vermeintlich assoziative Roadmovie-Dramaturgie und die treffsicheren Dialoge vertieft, sondern vor allem über Hellen Mirrens und Donald Sutherlands Darstellung ihrer Charaktere. Sei es Mirrens verzweifelt-heitere Art »ihren« John zurückzuholen und gleichzeitig den »neuen« – alles vergessenden John und eine ganz andere Art der Beziehung zu akzeptieren, oder sei es Donald Sutherlands mal kaum zu ertragende, dann wieder liebevolle Janusköpfigkeit, die derartig verblüffend ist, dass ich für Momente meinen alten, an einer Parkinson-Demenz-Variante leidenden Freund Richard zu sehen glaubte, der mich nur eine Woche vor der Pressevorschau von Virzìs Film für Minuten ebenfalls nicht mehr erkannt hatte, dessen alte Persönlichkeit sich dann aber genauso flatterhaft wieder materialisierte wie die von Sutherlands verkörpertem John.
Dass Virzì in das Das Leuchten der Erinnerung für diese zutiefst ambivalenten, persönlichkeits- und beziehungverändernden Zustände passende Bilder und eine Geschichte gefunden hat, die nicht nur die herkömmlichen Stereotypen paraphrasiert, ist an sich schon stark, dass er damit jedoch auch fordert, bestürzt und immer wieder überrascht ist tatsächlich fast altersweise zu nennen und in seiner eigenwilligen, immer wieder vertüddelt-verspielten Darreichung nicht weit von Jim Knopf und Lukas des Lokomotivführers Begegnung mit dem Drachen der Weisheit entfernt: allein Janis Joplins Interpretation von Kristoffersons »Bobby McGee« in diesen Kontext gestellt zu sehen, ist so unerwartet wie das Glück, das dadurch entsteht.