Der Lehrer, der uns das Meer versprach

El maestro que prometió el mar

Spanien 2023 · 106 min. · FSK: ab 12
Regie: Patricia Font
Drehbuch:
Kamera: David Valldepérez
Darsteller: Enric Auquer, Laia Costa, Luisa Gavasa, Ramón Agirre, Gael Aparicio u.a.
Der Lehrer, der uns das Meer versprach
Aus der Geschichte lernen...
(Foto: 24 Bilder Film)

Wenn Familien über Jahrzehnte hinweg schweigen

Bei Recherchen zum verschwundenen Urgroßvater im Bürgerkrieg stößt eine junge Spanierin 75 Jahre später auf die tragische Geschichte eines idealistischen Reformpädagogen

Spanien tut sich noch immer schwer mit der Vergan­gen­heits­be­wäl­ti­gung. Erst im Jahr 2000, also 25 Jahre nach dem Tod des Lang­zeit­dik­ta­tors Francisco Franco, begannen dort private Initia­tiven, Massen­gräber aus dem Spani­schen Bürger­krieg (1936 bis 1939) zu öffnen und die sterb­li­chen Überreste der Opfer der Diktatur zu bergen. Histo­riker gehen davon aus, dass dem Bürger­krieg zwischen 200.000 und 500.000 Menschen zum Opfer fielen. Schät­zungen zufolge wurden Zehn­tau­sende Opfer in Massen­grä­bern verscharrt. Bis heute wurden die sterb­li­chen Überreste von 12.000 Menschen exhumiert, doch noch immer harren Tausende Opfer der Bergung. Das ist der histo­ri­sche Hinter­grund des Spiel­films von Patricia Font, der sich dafür stark macht, das Andenken an die Opfer zu bewahren und ihre Schick­sale aufzu­klären.

2010 erfährt die allein­er­zie­hende Mutter Ariadna in Barcelona, dass in einem Massen­grab in der Provinz Burgos womöglich die Leiche ihres Urgroß­va­ters Bernardo verscharrt wurde, der seit 1936 vermisst wird. Ihr Großvater Carlos, der seit einem Schlag­an­fall in einem Pfle­ge­heim lebt, hatte heimlich nach ihm suchen lassen. Ariadna fühlt sich seinem Wunsch verpflichtet und will helfen, das lange verschwie­gene Fami­li­en­ge­heimnis aufzu­klären. Gegen den Willen ihrer Mutter fährt sie zu dem Grab, wo sie den alten Dorf­be­wohner Emilio trifft. Dieser erweist sich als Klas­sen­ka­merad von Carlos. Beide waren Schüler des jungen kata­la­ni­schen Lehrers Antoni Benaiges, der 1935 ins abge­le­gene Dorf kam, um die Grund­schule zu über­nehmen.

In Rück­blenden erzählt der Film die Geschichte des links­ori­en­tierten Reform­pä­d­agogen, der mit seinen progres­siven Lehr­me­thoden die Schü­le­rinnen und Schüler zu Beginn irritiert, dann aber begeis­tert. Antoni nimmt die Kinder ernst, er weckt ihre Krea­ti­vität und stärkt ihr Selbst­ver­trauen. Sein wich­tigstes Hilfs­mittel ist die Drucker­presse, ein Lehr­in­stru­ment, das vor allem der fran­zö­si­sche sozia­lis­ti­sche Reform­pä­d­agoge Célestin Freinet propa­gierte: Damit können die Kinder Beiträge, die sie zu einem ausge­wählten Thema erstellt haben, selbst drucken und in einem Heft fest­halten.

Mit seinen fort­schritt­li­chen Ideen stößt der enga­gierte huma­nis­ti­sche Lehrer bei der konser­va­tiven Bevöl­ke­rung, dem skep­ti­schen Bürger­meister und dem reak­ti­onären Pfarrer aber auf Bedenken, Argwohn und Wider­spruch. Vor allem als er den Schü­le­rinnen und Schülern verspricht, mit ihnen in den Sommer­fe­rien ans Meer zu fahren, das sie noch nie gesehen haben. Kaum hat Antoni nach langen Bemühungen endlich die Zustim­mung der Eltern zusammen, da putscht das Militär unter Befehl von General Franco.

Der ruhige, konven­tio­nelle Kinofilm der erfah­renen TV-Seri­en­re­gis­seurin wird vor allem von einem souverän agie­renden Ensemble getragen. Vor allem Enric Auquer sammelt mit einer kraft­vollen Darstel­lung des uner­müd­li­chen Idea­listen Sympa­thie­punkte und bildet mit den durchweg natürlich agie­renden Kinder­dar­stel­lern ein starkes Team. Eine bemer­kens­werte Leistung zeigt auch Laia Costa, die 2015 den Deutschen Filmpreis für die beste weibliche Haupt­rolle in dem Berlin-Filmdrama Victoria gewonnen hat, als ebenso hart­nä­ckige wie melan­cho­li­sche Spuren­su­cherin. Die unter­kühlte Ausstrah­lung ihrer fiktiven Figur leidet aller­dings darunter, dass leider unklar bleibt, woran sie erkrankt war oder ist. Schlagen sich in ihrer Psyche etwa die Spät­folgen von gene­ra­tio­nen­ü­ber­grei­fenden Traumata in der Familie nieder?

Das Drehbuch des Films schrieb Albert Val auf der Grundlage eines Romans von Francesc Escribano, der darin die wahre Geschichte des Lehrers Antoni Benaiges verar­beitet hat, der mit nur 33 Jahren von den Schergen des Franco-Regimes getötet wurde. Der Film, der in Spanien fünf Goya-Nomi­nie­rungen gewann, verknüpft in einer geschickten alter­nie­renden Montage die beiden Erzähl­stränge und Zeit­ebenen. Die hellere Licht­ge­bung und die warmen Farben der geschil­derten Ereig­nisse von 1935/36 stehen dabei in einem klaren Kontrast zu den düsteren Aufnahmen und fahlen Farbtönen der Szenen von 2010. Auch jenseits dieser drama­tur­gi­schen Abgren­zung wirkt die Geschichte des Lehrers kraft­voller und mitreißender als die der melan­cho­li­schen Ariadna. Die Brücke, die die Regie zwischen Vergan­gen­heit und Gegenwart schlägt, verdeut­licht zugleich, wie wichtig es ist, die Erin­ne­rungen an die Verbre­chen zu bewahren und das Geschehen aufzu­klären, um so aus der Geschichte lernen zu können.

Mit der Prot­ago­nistin Ariadna bringen Val und Font scheinbar beiläufig einen mytho­lo­gi­schen Subtext in die Insze­nie­rung. Ihr Name spielt auf die grie­chi­sche Sagen­figur Ariadne an. Die kretische Königs­tochter hat der Über­lie­fe­rung zufolge dem Athener Theseus mit einem Wollfaden geholfen, das Ungeheuer Mino­taurus zu besiegen. Wenn Ariadna mit detek­ti­vi­schem Spürsinn in den Gesprächen mit Antoni ehema­ligen Schü­le­rinnen und Schülern die Puzzle­teile zu dessen Schicksal zusam­men­trägt, spinnt sie zugleich auch den roten Faden, der Antonis und Carlos' Geschichte verbindet.