Großbritannien/USA 2010 · 119 min. · FSK: ab 16 Regie: Matt Reeves Drehbuch: Matt Reeves Kamera: Greig Fraser Darsteller: Chloë Moretz, Kodi Smit-McPhee, Richard Jenkins, Elias Koteas, Cara Buono u.a. |
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Unbekannter in Schneenacht |
Der kleine Junge steht am Fenster seines Zimmers. Draußen fallen Schneeflocken in den Hof. Es ist schon dunkel und in seinem Zimmer hat er kein Licht an. Darum können ihn die Leute von Gegenüber nicht sehen; sie sehen nicht, dass er eine Plastikmaske aufhat, die sein Gesicht ins Boshafte verzerrt, sie sehen nicht, dass er ihnen durch sein Fernrohr zuguckt, beim Nachhausekommen, beim Streiten, beim Versöhnen, beim Leben; und sie sehen nicht das lange Küchenmesser, das er in seiner Hand hält. Zu diesem Zeitpunkt wissen wir schon, dass dieser Zwölfjährige Owen heißt, dass er mit seiner frischgeschiedenen Mutter in einer ziemlich deprimierenden Vorortsiedlung lebt, dass die Mutter zuviel betet und zuviel Wein trinkt, und dass Owen in der Schule ein Außenseiter ist, Objekt alltäglicher Drangsalierungen durch eine Gruppe gleichaltriger Schläger. Wir wissen auch, dass er ein guter Beobachter ist, einer, der mehr mitbekommt, als die meisten, der längst verstanden hat, dass er auf seine Mutter nicht bauen kann, und das irgendetwas nicht stimmt mit den neuen Nachbarn, dem alten Mann und dem jungen Mädchen, das selbst im Schnee barfuß läuft.
Da steht er nun, ein maskierter Voyeur mit Messer, eine gequälte, einsame Seele mit Gewaltphantasien, aus dem Off läuft David Bowies »Let’s dance!«, und man muss das Schlimmste befürchten, als Owen sich jetzt hinausschleicht und hinunter geht in den Hof. Aber er stößt das Messer nur in den Baum, und stellt sich irgendetwas dabei vor, wie es wahrscheinlich jeder Junge in dem Alter irgendwann einmal macht. In diesem Moment öffnet die Kamera ein wenig ihre Perspektive, und wir sehen das Mädchen hinter ihm, auf dem Spielplatzgerüst im Hof. Sie steht da, leicht und wie schwerelos, kalt scheint ihr auch nicht zu sein, und nach einem kurzen Schrecken über diese plötzliche Erscheinung schöpft man als Zuschauer schnell Vertrauen, genau wie Owen. Es wird einem schon nichts Schlimmes passieren mit diesem Nachbarsmädchen, was immer auch mit ihr los ist – das weiß man und die Schneeflocken, die immer noch rieseln und alle Geräusche wie in einen dämpfenden Teppich hüllen, hüllen auch diesen Moment in ein Kleid aus reiner Poesie. Dies ist die erste Begegnung zwischen Abby und Owen und spätestens, als sie ihm sagt »Nur damit Du’s gleich weißt: Wir können keine Freunde sein«, ist man sicher, dass sie es werden. Auch wenn man das eigentliche Problem in diesem Moment noch gar nicht verstanden hat.
Vampire, die Nachricht ist weißgott nicht mehr neu, sind derzeit überaus populär. Irgendetwas muss an ihnen dran sein, dass sie seit etwa 20 Jahren zur perfekten Projektionsfläche für unsere Gegenwart macht. Was wagt man nicht alles ins Gerüst der Vampirlegenden hineinzulegen: Sex und AIDS, Rassismus und Ausgrenzung, Pubertät, Krieg und alle möglichen anderen Fragen des Zusammenlebens. Francis Ford Coppola war wieder einmal der erste, der die Vampire zurück auf die Leinwand brachte und in seinem Dracula die Grundlinien gegenwärtiger Vampir-Ästhetik vorgab. Sie pendelt zwischen den drei Polen einer Vermengung von Sex und Gewalt (Thirst), der Spießermädchen-Romantik blassen Teints und schwarzer Gewänder (Twilight), und der dominant-fatalesken Ausstrahlung zugleich hübscher wie gefährlicher Menschen in engem Lederoutfit (Underworld, Blade). Die Konsequenz aus dieser Überfülle ist die, dass man sich ein bisschen sattgesehen zu haben meint an den Blutsaugern, und sie sich für ein paar Jahre unter ihrem Sargdeckel zur Ruhe gelegt wünscht.
Als dann aber vor genau drei Jahren So finster die Nacht ins Kino kam, ein Vampirfilm ausgerechnet aus Schweden und so unverkennbar europäisch, wie die Stockholmer Trabantenstadt, in der er spielte, war das eine kleine Offenbarung: So poetisch wie sinnlich, so liebevoll und bezaubernd wie diese seltsame Liebesstory zwischen einem Zwölfjährigen und einem Vampir war lange keine Blutsaugergeschichte mehr erzählt worden, und da sie zwischen Kindern spielte, ging sie einem noch mehr ans Herz. Man könnte auf den ersten Blick daher mit guten Gründen sagen, dass ein amerikanisches Remake völlig unnötig ist. Weil aber Tomas Alfredsons Film seinerzeit so grandios war, ist die Tatsache, dass Matt Reeves Let Me In alle guten Einfälle des Vorbilds einfach übernimmt, inklusive der schönsten Drehbuchsätze, eher eine gute Nachricht. Auch wenn sich Reeves mit seinem Debüt Cloverfield nicht gerade für einen derartigen Zugang empfohlen hat, geht er hier mit der Bescheidenheit eines mittelalterlichen Kopisten ans Werk. Er versetzt den Stoff aus dem Schweden 1981 einfach ins Amerika von 1983. Das gibt ihm Gelegenheit, einmal Ronald Reagans berühmte »Evil Empire«-Rede nebenbei im Fernsehen laufen zu lassen – im Original war es irgendeine vergessene Breschniew-Ansprache –, der Grund für die Verschiebung ist aber wahrscheinlich ein musikalischer: Denn die eine große Veränderung ist, dass Reeves seinen Film mit Hits aus den frühen 80ern gespickt hat, die ausgezeichnet passen, und deren Texte immer wieder hübschen Doppelsinn entfalten: »Don’t you really want to hurt me«, oder in einer atemberaubendem Sequenz, in der sich ein Mann verzweifelt dagegen wehrt, zum nächsten Vampiropfer zu werden, »Burning for you«. Auch sonst entfaltet dieses letzte Jahrzehnt, in denen Schüler kein Internet und Mobiltelephon hatten, dafür »Pacman« und »Rubik’s Cube« viel Retro-Charme.
Reeves arbeitet sehr klug mit Unschärfen und langen Brennweiten, nicht weniger lebt sein Film aber von den beiden Hauptdarstellern Chloë Moretz (die nicht ohne Grund im nächsten Scorsese-Film mitspielt) und dem aus »The Road« bekannten Kodi Smit-McPhee. Was Abby und Owen verbindet, ist ihre Einsamkeit. In dieser Konstellation ist das Mädchen stärker, als der Junge. Auch das ist nicht neu. Neu aber ist: Er kann es hinnehmen, ohne dabei schwach auszusehen.
Warum aber interessieren wir uns nun heute so für Vampire? Vielleicht, weil wir uns unterbewusst mit diesen parasitären Wesen und der stillen Verzweiflung von Abby recht gut identifizieren können, und es uns so geht wie Antonio Gramsci, der über das 20. Jahrhundert sagte: »Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren: Es ist die Zeit der Monster.« Im Innersten sehen auch wir ganz klar, dass es so wie zurzeit nicht mehr lange weitergehen kann. Aus dem Radio, so ziemlich gegen Ende des Films, kommt der Song »Turning japanese«. Wenn’s nur das wäre...