Deutschland 2016 · 86 min. · FSK: ab 0 Regie: Olga Delane Drehbuch: Olga Delane, Frank Müller Kamera: Olga Delane, Nikolai von Graevenitz Schnitt: Philipp Gromov |
||
Sibirische Dorfjugend |
Es gibt Vegetarier, die würden Menschen, die Fleisch essen, am liebsten lynchen. Feministinnen finden, dass Männer, die Frauen in kurzen Röcken hinterherstieren, Sexisten sind. Wer rumposaunt, eine Frau könne nur ein erfülltes Leben führen, wenn sie sich ihrem Gatten unterordne, kann nur ein alter, weißer Mann sein.
Wie soll man umgehen mit gewissenlosen Tiere-Fressern, peinlichen Machos und schwanzgesteuerten Sexisten? Sind nur ihre Essgewohnheiten, Rollenmodelle und erotischen Vorlieben abzulehnen? Oder sie in ihrer ganzen Persönlichkeit? Kann man versuchen, sie aufzuklären, und sie von ihren Vorurteilen zu befreien?
In unserer gerühmten, freien Gesellschaft wird es üblich, Widerlingen elegant aus dem Weg zu gehen. So wie man um Pützen einen Bogen macht oder um Kadaver. Wer tritt schon gerne auf tote Tiere?
Liberale, ökologisch bewusste Vegetarier trinken am liebsten mit Gleichgesinnten ihren Chai. Denen es nach Fleisch gelüstet, die sexistischen Carnivoren-Machos, zischen ihr Bier lieber mit anderen, die die gleichen Vorlieben haben wie sie.
Es scheint, als sei eine Meinungsverschiedenheit aus dem 21. Jahrhundert, die bereits für ausgestorben galt, zu neuem Leben erwacht: Der Kampf zwischen dem Guten und Bösen, zwischen den Guten und den Bösen, ach was, zwischen Himmel und Hölle. Die Hölle sind bekanntlich die anderen...
+ + +
Das kleine Dorf Onon-Borzya liegt 1000 Kilometer östlich des Baikalsees. Seine Bewohner essen gerne Fleisch. Sie haben kaum Wahlmöglichkeiten. Um genügend Obst und Gemüse anzubauen, ist es zu kalt. Es zu importieren, ist zu teuer.
Kein Wunder, dass das eigenhändige Schlachten eines Schweins zum Festtag wird. Die frische Schlachtplatte aber löst bei Vegetariern Ekel aus, Brechreiz.
Die Ansichten der Dorfbewohnerinnen und -bewohner über Liebe, Beziehungen und Familie könnten in unserer westlichen Welt einen Shitstorm auslösen. Freundschaften würden zerbrechen wie Kristallglas, wenn der Elefant im Porzellanladen auf dem Tisch tanzt. Frauen würde man die Telefonnummer des Frauenhauses zustecken. Männer zum Anti-Aggressions-Kurs verdonnern oder zumindest zu den Anonymen Alkoholikern.
In Liebe auf Sibirisch – Ohne Ehemann bist du keine Frau! wimmelt es von Meinungen, die in Deutschland im Jahre 2017 politisch nicht korrekt sind. Achtung: Frauen zu verprügeln ist strafbar.
Trotzdem sind es die Dorfbewohner, die der russischen Dokumentarfilmerin Olga Delane ans Herz legen: Sie werde niemals glücklich werden, wenn sie weiterhin versuche, frei zu sein und sich selbst zu verwirklichen. Stattdessen solle sie heiraten und Kinder gebären. Dafür sei es höchste Zeit. Oder schon zu spät? Olga Delane ist 36 Jahre alt.
Um solche Meinungen zu hören, muss man weder tausende Kilometer nach Sibirien reisen, noch einen Dokumentarfilm gucken. Man hört sie an bierseligen Stammtischen in Deutschland. Wer kein Bier trinkt, kann in einer fremden Filterblase googeln.
Ein paar Mal muss man innerlich den Kopf schütteln über Macho-Parolen und weibliche Opferbereitschaft. Doch dann gibt Liebe auf Sibirisch ein Panorama frei auf eine fast archaische Gesellschaft. Sie ist nicht die Hölle auf Erden, sondern ein eigener, kleiner Kosmos. Mit Menschen, die ihr Glück gefunden haben oder es noch suchen. Paaren, die nach Jahrzehnten Ehe erbittert streiten und sich trotzdem immer wieder versöhnen. Gescheiterten, die ihr Leid in Wodka ertränken.
Plötzlich sind die Männer nicht mehr nur Machos, und die Frauen nicht nur Opfer. Sondern Menschen mit Facetten, Abgründen und Sehnsüchten. Sie machen alles, um glücklich zu werden mit den Möglichkeiten, die sie sich vorstellen können, fast so wie wir.
Besonders sehenswert wird die Doku durch den Respekt, den die Regisseurin den Dorfbewohnern entgegenbringt. Und den diese erwidern. Manchmal, wenn die Kluft zwischen den Lebensmodellen zu groß wird, helfen als Brücke auch Ironie und Humor.
Olga Delanes Neugier entdeckt in Sibirien altmodische, verpönte Gefühle und Tugenden, die man bei uns selten findet. Unter den ersten zehn Treffern bei Google auch nicht. Wahrscheinlich nicht mal unter den ersten hundert.