Finnland/D/F 2006 · 77 min. · FSK: ab 6 Regie: Aki Kaurismäki Drehbuch: Aki Kaurismäki Kamera: Timo Salminen Darsteller: Janne Hyytiäinen, Maria Heiskanen, Maria Järvenhelmi, Ilkka Koivula, Aarre Karén u.a. |
»Gorki, Tolstoi, Puschkin, Turgenjew, Tschechow, Gogol« – ein Haufen Obdachloser plappert gleich zu Beginn von Lichter der Vorstadt überraschend elaboriert über die berühmtesten Söhne der russischen Literatur. Einer allerdings fehlt in der Aufzählung, und das natürlich nicht ohne Grund: Dostojewski. Denn dessen böser Blick und Lust an Amoral ist Aki Kaurismäki so fern, wie diesem umgekehrt die sentimentalen Anwandlungen des finnischen Autorenfilmers.
In seinem neuesten Film, nach Wolken ziehen vorüber und Der Mann ohne Vergangenheit dem Abschlusswerk seiner sozialromantischen Verlierer-Trilogie (keine Bosheit des Kritikers, so nennt sie der Regisseur selbst), erzählt Kaurismäki, sentimental wie Chaplin, aber ohne dessen Situationskomik, von einem Tramp im Helsinki von heute. Als Sicherheitsmann bewacht Koistinen ein Schmuckgeschäft. Die Kamera begleitet ihn, wie er immer in pseudo-amerikanischen Bars mit bunten Spielautomaten dünnen Kaffee trinkt, und im »Grilli«, der Würstchenbude um die Ecke, schlabbrige Wienerwürste ißt. Und es kostet den Zuschauer keine Mühe, sofort zu verstehen, wer hier die Guten und die Bösen, was in Kaurismäkis Welt erlaubt und was verboten ist, und auch sonst bietet dieser Film kein angestrengtes Hingucken-müssen, sondern die wohlige Rückkehr an einen längst vertrauten Ort. Janne Hyytiäinen agiert in der Hauptrolle wie eine Wachsfigur, raucht in jeder Szene mehr und schweigt immer trauriger. Die Farben sind blaurot und warm, das Format Cinemascope, und da unübersehbar ist, dass Kaurismäki viele amerikanische Melodramen angeschaut hat, muss es sich wohl um große Filmkunst handeln.
Eines Tages trifft Koistinen in einer dieser Bars auf eine blonde ziemlich unfatale Femme Fatale. Die gaukelt ihm Liebe vor, a la Rita Hayworth in Mankiewiczs All About Eve, im Auftrag von Gangstern, die dann mit ihrer Hilfe den Schmuckladen ausrauben. Im Gefängnis landet nur Koistinen, weil er die Blonde selbst dann noch deckt, als er längst ihren Verrat durchschaut hat. Erst nach seiner Entlassung wird er um ein Haar zum Verbrecher, doch kurz davor rettet ihn die dunkelhaarige Würstchenverkäuferin, die ihn schon immer klammheimlich angeschmachtet hat.
Liebe, ach wie schön! Man sollte Lichter der Vorstadt vielleicht einfach Kitsch nennen. In ein paar Andeutungen wird zwar nahe gelegt, dass es die Wurstverkäuferin gewesen sein könnte, die dem Tramp eine Falle stellte, um ihn, der nur Augen für die Blonde hatte, zur Liebe zu zwingen – so verstanden ist Lichter der Vorstadt plötzlich ein abgrundtief böser Film über bitterböse Frauen, und keineswegs pseudo-niedlich, sondern, doch nahe bei Dostojewski. Und vielleicht ist ja bei Kaurismäki wirklich alles sehr doppelbödig.
Vielleicht ist es aber auch arg banal. »He is loyal as a dog, a sentimental fool.« sagt der Gangsterboss über den Tramp, und das könnte man auch über diesen Regisseur selbst sagen. Nirgendwo im Gegenwartskino sind die Gefühle und die Unschuld »der kleinen Leute« so gutherzig und eindeutig, wie bei Kaurismäki. Offenbar glaubt der Regisseur wirklich, die Armen seien die besseren Menschen. Aber das erzählt, wenn schon, Hollywood besser. In Bildern und Erzählweise hat sich Kaurismäki seit 15 Jahren nicht weiterentwickelt; seine Filme sind längst zur Manier geworden, immer dieselben Variationen eines schon lange uninteressanten selbsterschaffenen Kosmos, nicht bigger, sondern smaller than life, anti-glamouröses Erbauungs- und Depressionskino ohne Temperament.
Man muss zwar kein Finne sein, um Kaurismäkis Werk zu schätzen. Man muss aber auch nicht neoliberal wählen, um von diesem Werk genervt zu sein. Lichter der Vorstadt ist insofern der perfekte Weihnachtsfilm, als dass er an die Versammlung der Familie unterm Tannenbaum erinnert: Eigentlich nervt es alle, aber alle tun auch so, als wären sie in Herz und eine Seele; man macht halt mit, wieder Gefühl und besseres Wissen, aber irgendwann ist es auch genug. Natürlich wird sich trotzdem wieder die Kaurismäki-Gemeinde verzückt im Kino räkeln, angefeuert von jener Handvoll Kritiker, die sich und uns auch diesmal noch nicht ihre Langeweile eingestehen, und in ihren Artikeln dann trotzdem nicht schreiben, was sie an dem Film gut finden, sondern was für ein lustiger schriller Kerl der Kaurismäki doch ist, wie putzig in seinem Pessimismus – und man würde gern mal von den gleichen Leuten die Texte lesen, wenn ein deutscher Regisseur sich so aufführte. Stattdessen müssen wir weiter davon lesen, wie nett man mit Kaurismäki Wein trinken und eine rauchen und über Fußball reden kann – das haben wir auch schon gemacht, unter anderem, um nicht mit ihm über seine Filme reden zu müssen, aber besser werden die Filme dadurch auch nicht. Man liest im Gegenteil zwischen den Zeilen mancher Texte, schon bei Der Mann ohne Vergangenheit, und jetzt wieder, wie peinlich berührt manche Kritiker beim Ansehen dieser Filme sind, wie gelangweilt, und man spürt, dass sie ihm nur noch die Stange halten aus Loyaliät, nicht aus innerer Überzeugung – wie Wenders, wie Jarmusch. Und das spricht ja auch für deren Charakter, und bestimmt gibt es Filmemacher, wo wir uns ähnlich verhielten. Aber hier?
Es sind auch immer die gleichen Vokabeln, mit denen man Kaurismäkis Filme lobt: »Anrührend«, »lakonisch«, »märchenhaft«, »trocken«. Manchmal, im Einzelfall stimmt das, oft aber übertüncht es nur die mehr oder weniger gemütliche Langeweile, die Kaurismäkiland dominiert. Lakonisch sind nur Dialoge, wenn sie in wenigen Worten viel sagen; anrührend nur Szenen, die von Menschen handeln, statt von Abziehbildern, märchenhaft kann natürlich alles Mögliche sein, aber nicht die xte Wiederholung seiner selbst. Und trocken? Der Film konfrontiert einen mit keinem ganz trockenen Humor mehr, sondern mit der ausgetrockeneten, aber auch ein bisschen zu warmen Luft einer elektrischen Heizung in der Suppenküche der Heilsarmee. In seinem letzten Film, Der Mann ohne Vergangenheit hatte Kaurismäki diese noch auftreten lassen. Jetzt wird sein Kino selbst endgültig zur Wärmstube.
Vor einer Kneipe ist ein Hund angebunden. Das Tier scheint schon lang allein dort zu warten. Er ist unruhig, durstig. Koistinen (Janne Hyytiäinen) kann das Leiden der Kreatur nicht mit anschauen. Er betritt die Kneipe und will den Besitzer des Hundes zur Rechenschaft ziehen. Es stellt sich heraus, dass der Hund drei stämmigen Schlägertypen gehört. Die haben sichtlich keine Lust, sich in ihre Tierhaltung reinquatschen zu lassen.
Jetzt wäre der Zeitpunkt, sorry zu sagen und zu gehen. Weil: Es bringt ja nix. Das ist auch Koistinen klar. Aber ein Mann wie Koistinen muss tun, was er tun muss. Da geht’s nicht um Erfolgaussichten.
Die drei Typen gehen mit Koistinen raus. Was kommt ist klar. Die Kamera muss gar nicht mit. Die kann unbeweglich bei dem leeren Stehtisch verharren. Dauert ja auch alles gar nicht lang. Kaum, dass die Schwingtür zur Ruhe gekommen ist, stoßen die drei Prackl sie auch schon wieder auf. Kehren zurück zu ihren Bieren und lachendem Gespräch.
Alles, was Koistinen von der Geschichte hat, sind seine Wunden. Und das Gefühl, für Mitleid und Menschlichkeit eingetreten zu sein. Des Prinzips wegen. Ohne taktische Berechnung von Sinn, Vorteil, Chancen.
Aki Kaurismäki ist wohl auch so einer, der nicht anders kann. Für eine Weile sah es zwar mal so aus, als wolle er tatsächlich aufhören. Seine Verweigerung des Kinobetriebs, dessen Moden, Erwartungen auf die konsequente Spitze treiben und gar keine Filme mehr machen. Und dann stand’s offenbar, der Lebensstil forderte Tribut, zwischenzeitlich auch gesundheitlich nicht gut um ihn.
Aber war’s Langeweile, war’s – er würde freilich nie zugeben, sowas zu haben – Pflichtgefühl: Nach den vier auf seinen Stummfilm Juha folgenden Jahren, in denen es still um ihn geworden war, kehrte er mit Der Mann ohne Vergangenheit (Mies vailla menneisyyttä) triumphal zurück. Und wenn seither auch schon wieder vier Jahre ins Land gegangen sind, so brachten diese doch immerhin zwei Kurzbeiträge zu Episodenfilmen. Und die Hoffnung, Kaurismäki könne, wenn schon nicht zu seinem alten Ein-Film-pro-Jahr-Rhythmus, so doch zu einer gewissen Regelmäßigkeit des Filmemachens zurückfinden.
Man sollte es trotzdem nicht gleich wieder als selbstverständlich nehmen, dass er jetzt mit Laitakaupungin valot seine »Trilogie der Verlierer« abgeschlossen hat. (Nach Wolken ziehen vorüber (Kauas pilvet karkaavat) und dem Mann ohne Vergangenheit. Kaurismäki hat einmal gesagt, er sei ein fauler Mensch. Und drum spreche er nach zwei Filmen schon von einer Trilogie, um den Zwang zu haben, einen dritten zu drehen.) Wenn die Kaurismäki-losen Jahre nach Juha etwas klar gemacht haben, dann dies: Jeder Kaurismäki-Film ist ein Geschenk. Wem Kino Herzensangelegenheit ist, der sollte jeden als solches schätzen – und sich seiner würdig erweisen.
Ein Kaurismäki muss tun, was ein Kaursimäki tun muss. Wenn Lichter der Vorstadt (ausnahmsweise mal ein wirklich gelungener deutscher Verleihtitel), im Gegensatz zum Mann ohne Vergangenheit, mit erstaunlich wenig Fanfare aufgenommen wurde, liegt das wohl daran, dass man sich schon erneut daran gewöhnt hat, dass Aki wieder Filme macht. Und er seinem Stil treu bleibt, der spätestens 1986 mit Schatten im Paradies (Varjoja paratiisissa) formuliert war.
Qualität allein schert den Betrieb heute wenig – die ist kein »Aufhänger«. Man braucht Geschichten drum rum: Regisseur kehrt aus Schaffenspause zurück. Regisseur erfindet sich neu. Aber: Kaurismäki macht einmal mehr einen großartigen Film? Das hat keinen Neuigkeitswert, leider.
Natürlich wäre Kaurismäki Künstlers genug, sich andere Stile anzueignen. Wenn er wollte. Aber das von ihm zu verlangen, wäre noch unsinniger, als Shakespeare zu sagen, er solle doch mit dem ollen Blankvers aufhören: Es hieße, ihn zu bitten, mal eben seine Weltsicht zu wechseln.
Denn bei Kaurismäki ist der Stil des filmischen Erzählens keine bloße beliebige Einkleidung: Seine Kunst wächst aus einem Grundmisstrauen gegen die Welt wie gegen das Kino. Beiden nimmt er ihre Heilsversprechen nicht ab.
Der heutigen Welt glaubt er nicht, dass der Kapitalismus je den Großteil der Menschen glücklich(er) machen wird. Dass das ewige Produzieren und Mehren und Steigern und das Verwerfen des Alten irgendwo anders hinführt als in einen Kreislauf des Scheiterns. Und er glaubt nicht, dass der Mensch an sich rauskommt aus seiner Grundeinsamkeit. Die Momente der Nähe sind bei ihm immer gestohlene Momente. Zart und zerbrechlich.
Dem Kino aber glaubt er weder, dass es dazu gemacht sei, die Wirklichkeit so abzubilden, »wie sie ist«. Noch, dass es durch Einsatz all seiner künstlichen Möglichkeiten, Spielerein, Manipulationsmechanismen zur Wahrhaftigkeit finden kann.
Wahrscheinlich weil er selbst wirklich gearbeitet hat, tatsächlich sogar Tellerwäscher war, ist ihm die Pose des (Neo)realismus fremd. Diese Faszination des Intellektuellen für das Pseudo-Dokumentieren der Welt der unteren Schichten. Kaurismäki ist kein Weltverbesserer. Seine Filme haben enorm viel zu sagen, aber sie haben keine BOTSCHAFT im Sinne von preisgekrönten Sozialdramen. Er ist viel zu sehr wie die Menschen, die er zeigt, als dass sie ihm zum bloßen Anliegen verkommen könnten. Das Außenseitersein ist bei ihm nicht einfach ein gesellschaftlich bedingtes Problem – es ist, ähnlich wie im Werk Sofia Coppolas, ein Grundzustand der Existenz.
Andererseits aber, wie gesagt, verachtet Kaurismäki auch die melodramatische Maschinerie der emotionalen Erzwingung, ja Erpressung, die das Kino gern betreibt. In seiner Sicht kann das so erzeugte Gefühl immer nur ein falsches sein. Weshalb er alles über Bord wirft, was für gewöhnlich im Kino Emotion hervorrufen soll. Es bleiben fast nur einfach, aber genau komponierte Standard-Einstellunge, klassische Schnitte – und der Rhythmus des Ganzen. Er treibt seinen Schauspielern jedes Schauspiel aus, lässt sie ihre Sätze nur nüchtern aufsagen. Und wenn Musik zum Einsatz kommt, dann läuft sie entweder in der Welt des Films selbst im Radio, in der Jukebox, oder es sind die immergleichen, chiffrehaft gewordenen Ausschnitte aus hörbar alten Schallplattenaufnahmen (bevorzugt von Tschaikowskys »Pathétique«). Musik, dieses unmittelbarste und unterschwelligste Element der Emotionalisierung im Kino, ist bei Kaurismäki stets nur Zitat, wird auf Distanz gehalten.
Das alles aber eben genau mit dem paradoxen Ergebnis, dass es heute im Kino kaum emotionaler wirkende Filme gibt als die Kaurismäkis. Sein Weg des »No Bullshit« funktioniert. Weil das, was übrigbleibt, nachdem er alles an gewöhnlicher Gefühls-Mechanik verschrottet und an Emotions-Politur abgebeizt hat, pures Gefühl ist.
Kaurismäkis Filme setzen auf die emotionale Eigenresonanz ihrer Betrachter. Sie überrollen einen nicht mit dem, was sie einem geben wollen. Sie liefern nur einen kleinen, präzisen Anstoß und lassen alles Weitere damit von selbst er- und nachklingen. Das Ungesagte ist in ihnen klarer, bedeutender und vielschichtiger als alles Ausgesprochene. Die erfahrene Emotion verhält sich umgekehrt proportional zur offen zur Schau gestellten.
Lang gab es auf der Leinwand keine ergreifendere Szene als diese in Lichter der Vorstadt: Der Protagonist Koistinen, ein Wachmann, holt sich regelmäßig einen nächtlichen Imbiss an einem Würstelbuden-Wagen. Als es so aussieht, als hätte Koistinen endlich die ihm so lang entfleuchende Liebe gefunden, erzählt er der unscheinbaren Würstelverkäuferin von seinem Glück. Nachdem er fort ist, schließt die Frau (Maria Heiskanen) ihren Wagen, der verlassen auf einer
Wiese steht. Sie schaltet die Lichter ab. Steht allein im dunklen Inneren der Bude. Kaurismäki lässt sie groß und direkt in die Kamera schauen. In dieser Sekunde wird alles klar über die uneingestandene, lange währende, stille Liebe dieser Frau zum ahnungslosen Koistinen. Die eben hoffnungslos enttäuschte Liebe.
Wem da nicht das Herz bricht, der hat keins.
Einer wie Kaurismäki, der sich das »No Bullshit« zum Lebens- und Kunstmotto gleichermaßen gemacht hat, kann und wird nicht plötzlich nur um des Neuigkeitswerts willen mit irgendwelchen Verschnörkeleien anfangen. Aber Treue zum eigenen Stil heißt nicht, dass er mit und innerhalb dieses Stils nichts Neues machen könnte und würde.
Viel hat sich verändert im Kaurismäki-Universum, so wie es sich in Lichter der Vorstadt zeigt. Lang war die Welt der Kaurismäki-Filme dem Nokia-Finnland entkommen, hat sich dorthin zurückgezogen, wo noch ungebrochen die Sechziger, Siebziger zu herrschen schienen. Jetzt hat sich die Glas- und Stahlarchitektur der Globalisierung schließlich doch noch vorgefressen auch in dieses Reservat. Kaurismäkis Helsinki gesteht offen wie nie zuvor ein, dass es auf verlorenem Posten kämpft.
Und auch wenn Koistinen eine typische Kaurismäki-Figur ist, steht er doch für einen fortschreitenden Wandel. Kaurismäki war seit jeher einer der wenigen, die im Kino noch von der Arbeit erzählen. Koistinen ist der erste seiner Helden mit einem Job, in dem er weder etwas produziert, noch wirklich körperliche Arbeit verrichtet. Koistinen ist Nachtwächter in einer dieser Glas- und Chrom-Shoppingmalls. Er hockt in einer dieser Nischen, die die vermeintliche Handels- und Servicegesellschaft mit ihrer Produktionsauslagerung in Billiglohnländer noch für den ehemaligen Typ des »einfachen Arbeiters« bereithält. Er schafft keinen Wert mehr, er wahrt nur noch Besitz.
Mit seinen Vorgängern in den anderen Kaurismäki-Filmen gemein hat Koistinen die ungestillte Sehnsucht, die ihm stumm aus den traurigen Augen schaut. Es war auch schon immer dieser Glauben an diese Möglichkeit von Mehr im Leben, die Kaurismäki-Helden zugleich stark und verletzbar gemacht hat. Denn die Welt hat sich in diesen Filmen noch immer dagegen gewehrt, ihnen dieses erträumte Stück Glück zu geben, wie klein und berechtigt es auch sein mochte. In Lichter der Vorstadt aber wird diese Sehnsucht erstmals vorsätzlich, böswillig und konsequent ausgenutzt.
Da glaubt Koistinen doch tatsächlich, das Schicksal würde einem aufrechten Verlierer wie ihm eine Frau wie die Blondine Mirja (Maria Järvenhelmi) mit ihrem faszinierend-mysteriösen Katzengesicht nicht nur über den Weg schicken, sondern auch noch freiwillig ins Bett legen. Ein Glaube ans Gute, der bitter bestraft wird: Mirja arbeitet für einen Gangsterboss. Ihre Beziehung zu dem Wachmann dient nur dazu, der Bande für einen Juwelenraub Zutritt zu dem Einkaufszentrum zu verschaffen. Und nachher einen Sündenbock zu haben.
Wie gesagt: Kaurismäkis großes Thema ist der kleine Mann, der einfache Arbeiter, der Außenseiter und Verlierer in der Welt des Kapitalismus. Aber er glaubt nicht daran, dass der dafür im Kino meist übliche Sozialrealismus als Zugang, als Darstellungsform besonders geeignet ist.
Lichter der Vorstadt ist nicht nur, wie alle Kaurismäki-Filme, sehr künstlich, sehr stilisiert vorgetragen. Er ist, wie wenige Kaurismäki-Filme, zum Gutteil ein regelrechter Genre-Film. Er ist eine großartige Hommage an den film noir. Vielleicht die einzig wahre der letzten Jahre überhaupt – weil er, anders als die (auf ihre Weise schätzenswerten) Werke der neo-noir-Welle, so klein, ungelackt, dunkel, billig und rotzig dahingeblafft ist wie seine Vorbilder.
Eher eine falsche Fährte ist da die im (offenbar auch Original-)Titel und Begleitmaterial zelebrierte Huldigung an Chaplin. Man kann verstehen, dass Kaurismäki Chaplin bewundert, und man kann durchaus Spuren dieser Bewunderung in seinem Werk entdecken. Aber speziell Lichter der Vorstadt ist auch sehr weit von Chaplin (und City Lights) entfernt. Weniger wegen des Fehlens jeglichen Slapsticks. Sondern weil Kaurismäki die schamlose Sentimentalität Chaplins fremd ist. Und sein neuester Film gerade einer seiner herbsten überhaupt ist.
Wer hier, naiv wie Koistinen, daran glaubt, dass das Mitleid (und vielleicht noch ein bisschen mehr), das Mirja nach einer Weile merklich für den Armen empfindet, etwas hilft, der darf lange hoffen.
Woran Kaurismäki, bei all seinem Grundmisstrauen, freilich unbeirrbar glaubt, das ist die Würde des Menschen. Nicht als etwas von außen Gegebenes oder gar – grundgesetzmäßig – Garantiertes. Nein, alles, was die Welt in Kaurismäkis Filmen will, das ist, die Würde seiner Figuren anzukratzen, niederzuschlagen, totzutrampeln.
Aber es gibt eine innere Würde. Vielleicht hat Kaurismäki sie noch nie so schön knapp auf den Punkt gebracht wie in der Szene mit Koistinen und dem Hund vor der Kneipe. Denn so wie bei ihm die Würde eine rein innerliche Angelegenheit ist, ist das Scheitern eine rein äußerliche. Das Verlieren mit erhobenem Haupt ist ein heimlicher Sieg.
Das kann verdammt weh tun, und es mag einer darüber zugrunde gehen. Hat nie einer behauptet, dass diese Art von Würde ein billig zu habender Trost sei. Aber es liegt auch eine ungeheure Kraft in diesem Glauben an den unzerstörbaren Kern von Menschlichkeit.
Der Raum für Hoffnung ist klein, eng und fragil geworden in Lichter der Vorstadt. So klein, eng und fragil war er bei Kaurismäki, wenn überhaupt, bisher höchstens in Das Mädchen aus der Streichholzfabrik (Tulitikkutehtaan tyttö).
Es sind nur ein paar angedeutete Sekunden ganz am Ende. Diese Andeutung von Hoffnung aber, sagt Kaurismäki selbst, dürfe man ruhig ernst nehmen. Man tut es dankbar.
So wie jedes Wiedersehen der alten, jedes Erscheinen eines neuen Kaurismäki-Films einem Hoffnung gibt. Habe ich oben behauptet, Kaurismäki sei kein Weltverbesserer? Natürlich ist er es. Ganz praktisch – nicht in der Haltung seiner Filme, sondern in der Tatsache ihrer Existenz. Eine Welt, in der es Kaurismäki-Filme gibt, kann noch nicht ganz verloren sein.