Schweiz/Frankreich 2018 · 85 min. · FSK: - Regie: Jean-Luc Godard Drehbuch: Jean-Luc Godard Kamera: Fabrice Aragno, Jean-Luc Godard, Jean-Paul Battaggia Schnitt: Jean-Luc Godard |
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Eines von nur wenigen selbstgefilmten Bildern |
Mit den Händen könne man denken, sagt eine Stimme. Eine Reise ins Schattenreich wird angekündigt, wir hören: Orpheus ist zurück aus der Unterwelt. Und die Frage: »Was geschah auf seiner langen Reise?« Begegnet ist er offenbar vielen Bildern. Le livre d’image, zu deutsch Bildbuch, heißt der neueste Film von Jean-Luc Godard, dem 88-jährigen Großmeister der Nouvelle Vague, längst eine Legende, ein Denkmal seiner selbst – und trotzdem scheint das eine unangemessene Bezeichnung: Godard ist hellwach und einer der jüngsten Filmemacher der Welt. Er erfindet sich immer wieder neu.
Dieser Film ist ein Unikum – ohne Frage muss man ihn mehrfach sehen, um auch nur eine Vorstellung davon zu bekommen, was Godard sagen möchte. Ich glaube nicht, dass ich ihn verstanden habe, ich glaube, ich habe eine Ahnung davon, aber nicht mehr als das. Ich habe ihn dreimal gesehen und habe keine Sekunde bereut.
Am ehesten beschreibt man Bildbuch als einen Essayfilm in Form eines kommentierten, in schnellen, oft abrupten Schnitten komponierten Bilderstroms: Nur auf den ersten Blick ist das sperrig, dann, wenn man sich eingefunden hat, wirkt es eher verführerisch und den Zuschauer umgarnend, lustvoll mit ihm spielend, rätselhaft, aufklärend, alle Dechiffrierer belohnend, zwingend, sarkastisch...
Dieser Film ist ein Bewusstseinsstrom, der direkt dem Kopf des Regisseurs entstammt. Eine assoziativ verbundene Mischung von Ausschnitten aus Werken der Filmgeschichte, aus Nachrichtenbildern, Parolen und Begriffen, die in Versalien, in weißer Schrift auf schwarzem Grund die Leinwand einnehmen, dazu übereinandergelegte Soundebenen und eine Erzählerstimme, die Godard selber spricht – auch die Voice over in der deutschen Fassung hat er selbst eingesprochen mit seiner rauen, gar nicht so alt klingenden, kräftigen Stimme.
Vor allem anfangs sind die Film-Schnitte auffällig; es sind grobe Schnitte, die die Brüche und das Rohe der Montage betonen. Wie auch die verdoppelte Tonspur, die verfremdete, mitunter bewusst »schlechte« technische Qualität der Vorlagen – oft Videomaterial, Fernsehmitschnitte, zum Teil zerstört –, wobei es meistens hervorragende Filme sind, denen die Ausschnitte entstammen. Eine Verfremdungstechnik.
Bildbuch ist in fünf Teile unterteilt, darin gibt es wiederum Begriffe als grobe Ordnungsmuster; sie heißen zum Beispiel: »Archive + Moral«, »Bild + Worte« oder »Archäologie + Paradies«. Der Rote Faden lautet: »In unserer Epoche ist alles möglich.«
Anfangs geht es um »Remakes«, um Lüge und um das Atomzeitalter. Anna Karina sagt »Je suis pas triste«, ich bin nicht traurig, und lügt dabei.
Dann sehen wir Bilder aus Salò, Vietnam, Apocalypse Now, Menschen am Sonntag, Young Mr. Lincoln, Paisà, Vertigo – Meilensteinen der Filmgeschichte.
Im zweiten Teil mit dem Titel »Abendgesellschaften in Sankt Petersburg« sehen wir unter anderem »Krieg und Frieden«-Verfilmungen, lesen »Krieg ist hier«, sehen Hagen bei Fritz Lang und Ausschnitte aus einem Cleopatra-Stummfilm, lesen »Die Unschuldigen bezahlen für die Schuldigen«, sehen
Dokumentarbilder aus Lagern, dann folgen Hinweise auf Rosa Luxemburg und den Graf de Maistre, den berühmten Reaktionär der Gegenaufklärung.
In diesem Stil geht es weiter: Schön anzusehen, beziehungsreich, aber auch kryptisch und produktiv verwirrend. Zugleich ist dies ein klarer Film, Klarheit schaffend: Es gibt viele schöne Einsichten hier.
Alles mündet in ein Crescendo der Botschaften. Die Bilder zeigen, wie das Kino Terror abbildet, zum Teil auch »ausübt«, Opfer und Täter ist, Parteigänger. Das Kino als Terrorzusammenhang. Ein Satz von Bertolt Brecht gegen Ende gibt rückwirkend die Ästhetik vor: »Nur das Fragment ist authentisch.«
Authentizität, so kann man diese Passage verstehen, ist wichtiger als die Wahrheit, der Standpunkt wichtiger als die Ausgeglichenheit des Abwägens. »Hier stehe ich und kann nicht
anders«, sagte Luther. Hätte Godard unterschrieben?
Godard erzählt von Gegenwart und Zukunft, beschreibt verlorene Paradiese, unser aller Verhältnis zu den Bildern, zu ihrem Scheincharakter, und die allmähliche Transformation unserer Wirklichkeit – die die ganze Welt, nicht nur den Westen betrifft. Der Film hat einen melancholischen Grundton, aber eine entschiedene Haltung: Bildbuch ist kein Abgesang, schon gar nicht auf das Kino, aber eine scharfe Kritik unserer Kultur.
Der Film ist wütend. Godard klagt an. Der wütendste Satz lautet: »Wir sind nie traurig genug, um die Welt besser werden zu lassen.«
Darum gilt: Er werde immer auf der Seite der Bombenleger sein. »Es muss eine Revolution stattfinden«, ist einer der Schlüsselsätze eines Film, der sich in Godards Spätwerk fügt.