USA 2001 · 97 min. · FSK: ab 12 Regie: Michael Cuesta Drehbuch: Stephen M. Ryder, Michael Cuesta, Gerald Cuesta Kamera: Romeo Tirone Darsteller: Paul Franklin Dano, Bruce Altman, Billy Kay, James Costa u.a. |
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Gary (Billy Kay) und Howie (Paul Franklin Dano) |
Der 15-jährige Howie Blitzer wächst in einer Suburb auf, deren Atmosphäre ganz vom in der Nähe vorbeilaufenden Highway und seinem steten Brausen der Autos geprägt wird. Die Nüchternheit und Anonymität, die von dieser Schnellverkehrsstraße ausgeht, gibt dem ganzen Ort ein merkwürdig distanziertes, irgendwie frostiges Gepräge, obwohl eigentlich Sommer ist. Aber das Klima, das die Bilder vermitteln, ist ein emotionales und es entspricht durchaus der Stimmung, in der Howie Blitzer lebt: er fühlt sich fremd, unverstanden, verlassen. Die Mutter Howies kam vor einiger Zeit bei einem Unfall auf dem Highway um, der Vater Marty Blitzer scheint sich um den Sohn nicht besonders zu kümmern, macht sich vor allem Gedanken darüber, ob sein Bauch schon weniger geworden ist und wie er seine nicht ganz sauberen Geschäfte abwickeln kann. Er ist Bauunternehmer, beim Vögeln mit seiner Geliebten trägt er einen Bauhelm, das schützt während des akrobatischen Aktes seinen Kopf bei den heftigen Stößen gegen die Wand vor Verletzungen. Während des Gestöhnes und Gerumpels steht Howie vorm Badezimmerspiegel und probiert den Lippenstift seiner Mutter aus.
Gerade an der prägnanten und präzisen Gestaltung von solchen Szenen zeichnet sich ab, daß wir es hier nicht mit einer weiteren Inszenierung eines der üblichen Teenager-Dramen zu tun haben, die in einem sauberen und öden Vorort und im gepflegt langweiligen Milieu des gehobenen Mittelstands spielen. Was einem als Stoff schon sattsam bekannt vorkommen könnte, wird in diesem Film nämlich auf eine wirklich irritierende Weise neu dargeboten.
Und tatsächlich kommt das alles ja auch vor, das Rumhängen mit den Kumpels, das pubertäre Gealbere und Gefrotzel um Sex, Probleme mit der Schule, die Howie als Walt Whitman rezitierenden, auch selbst schreibenden Poeten natürlich langweilen muß. Auch das Kriminelle wird gestreift: von seinen Kumpels läßt sich Howie zu gelegentlichen Diebeszügen in reiche Villen mitnehmen. Zwischen dem tonangebenden Gary und Howie deuten sich in der Freundschaft Züge an, die homoerotische Akzente tragen, etwa wenn Gary Howie dazu ermuntert, sich seines Körpers nicht zu schämen. Über Gary und einen von ihm initiierten Diebeszug zu einem bestimmten Haus setzt dann eine Wendung ein, die den Film dann definitiv auf ein besonderes Terrain führt, nämlich zu der von Brian Cox verkörperten Figur des BigJohn. Diese Figur eines Ex-Marine verleiht der Gestalt des Päderasten eine an die Antike gemahnende Sinnenfroheit und Gelassenheit und Souveränität, einen Epikuräismus, den auch Walt Whitman besungen hat.
Wenn Big John an dem Stoffetzen schnüffelt, den er Howie aus seiner Jeans gerissen hat, als er die diebischen Jungs im Keller beim Klauen seiner wertvollen Pistolen überrascht, aber nicht erwischt hat, wenn er gewissermaßen Witterung aufnimmt und zu den Klängen von Donovans »Hurdy-Gurdy-Man« durch die idyllische Vorstadt fährt und auf der Suche nach dem Träger der Hose ist und seinen Blick über die von ihren Müttern behüteten Knaben in den Vorgärten schweifen läßt, dann schillert der Film vor Hintertriebenheit und Ambivalenz. Die puritanische Aura der Vorstadt bekommt eine geradezu sinnliche Qualität, ohne ihre Sprödheit einzubüßen. Was die Bilder des Films, seine Farben, sein Licht, seine Atmosphäre insgesamt auszeichnet, verdichtet sich in diesen Szenen des fahndenden Blickes BigJohns. Über diese Figur erschließen sich auch neue, insbesondere den ahnungslosen Howie überraschende Facetten der Persönlichkeit seines Freundes Gary. Der hatte nämlich bereits als Strichjunge nähere Bekanntschaft mit BigJohn geschlossen. Der Diebstahl der Pistolen aus dem Haus BigJohns, dessen Urhebern BigJohn ohne große Mühe auf die Schliche gekommen ist, veranlasst Gary dann allerdings, aus Long Island einfach abzuhauen. Man kann sich gut vorstellen, daß Gary sich mit dem Schwarzgeld, das er im Haus der Blitzers aus Marty Blitzers Schlafzimmerkommode noch schnell entwendete, in einen Larry-Clark-Film abgesetzt hat. Wo Dinge vorkommen, die es in L.I.E. nicht gibt, Drogen zum Beispiel. Aber das gehört zum gewissermaßen puristischen Konzept Michael Cuestas. Er unterstreicht damit die puritanische Aura seines Films, die er viel wirkungsvoller durch die subtile, immer die Verführung streifende Annäherung zwischen Howie und BigJohn zu ambiguisieren versteht.
Als Gary verschwunden ist und dann auch noch von Howies Vater keine Spur mehr da ist (er wurde vom FBI verhaftet, ohne daß Howie dies mitbekommen hätte), sieht sich Howie tatsächlich vollkommen verlassen dastehen. BigJohn, der plötzlich überall da auftaucht, wo Howie Schwierigkeiten hat (beim Schuldirektor, beim Leiter des Polizeireviers), nimmt sich seiner an. Vater, großer Bruder, lebenskluger Ratgeber und sensibler Verführer, alles fügt sich auf fast schon beängstigende Weise in dieser Gestalt zusammen, die für Howie eine Initiation in das Leben und die Welt der Erwachsenen bedeutet. Cuesta getraut sich in diesem Zusammenhang gar, die Poesie der ersten Rasur (mit Pinsel, Schaum und altmodischem Rasiermesser) zu beschwören, und ihm gelingt es, nicht nur diese Szene elegant und stilsicher zu absolvieren, ohne dabei auf seine Erfahrung als Werbefilmer für unverbindliche Glätte und bloß dekorative Oberfläche zurückgreifen zu müssen.
Insgesamt ist es vor allem der stilistische und inhaltliche Grenzgang, der fasziniert: L.I.E. vermengt College-Ulk, sexuelle Initiation, adoleszente Verwirrung und jugendliche Delinquenz zu einer sorgfältigen und eingehenden Studie, die immer auch Distanz gegenüber der Hauptfigur des Howie Blitzer wahrt. Damit markiert Regisseur Michael Cuesta so etwas wie Respekt vor seinem Helden und vermeidet pädagogische Anbiederung und Vereinnahmung, maßt sich dabei ebensowenig eine Haltung an, die so tut, als könne sie sich restlos hineindenken in die Gefühlswelt Howies. Diese Balance zwischen Befremden und Teilnahme gibt dem ganzen Film eine eigenartige, auch moralische Neutralität und Ambivalenz: der objektivierende Zugriff des Films spiegelt nämlich gewissermaßen Howies Gefühl der Fremdheit seiner Umwelt gegenüber, behauptet aber nicht, damit eine identifikatorische Entsprechung anzubieten. Die Fremdheit wird durch die Bilder oft in präzisen Momentaufnahmen eingefangen, gelegentlich auch mit Hilfsmitteln wie Zeitraffer verdeutlicht, und zwar als eine, die sich vergegenständlicht in der Atmosphäre der Nüchternheit und Sprödigkeit, die die Schauplätze kennzeichnet (symptomatisch dafür das Haus der Blitzers mit seiner Ausstrahlung einer protestantischen Kirche).
Charakteristisch in diesem Zusammenhang ist, daß das Sexuelle in diesem Film deutlich und explizit benannt und thematisiert, aber nicht in Bildern gezeigt wird. Cuesta gehorcht damit zwar rein äußerlich gewissermaßen einem Bilderverbot, dem Geiste nach verstößt er dagegen aber massiv und handelte sich in den USA ein Rating ein, das den Film erst ab 17 freigab. Das demonstriert, daß Cuesta die puritanische Moral an einem empfindlichen Punkt erwischt hat, nämlich dem der Freiheit zum Imaginieren als dem eigentlichen Kern eines solchen Tabus. Und in der Tat nimmt es Cuesta mit dieser Freiheit der Imagination sehr genau in seinem Film, indem es ihm gelingt, die Konventionen des Realismus, des Genres und der Moral nicht einfach auszuschalten oder zu mißachten, sondern sie auf Distanz zu rücken. Sie einzuklammern, um sich mit ihnen ernsthaft auseinandersetzen, um sie überprüfen zu können im Hinblick auf das, was Howie und die anderen Figuren mit ihrem Leben anfangen können. Der damit geschaffene Freiraum des Erzählens ist ein tentativer, einer der sich langsam durch die Geschichte vorantastet und immer wieder neue Aspekte erfühlen und weiterverfolgen könnte. Vielleicht mußte das Ende des Films darum so unerwartet gewaltsam ausfallen, mußte eine Möglichkeit der Weiterentwicklung der Geschichte definitiv abbrechen und einen mehr oder weniger willkürlichen Punkt setzen.