Großbritannien 2014 · 86 min. · FSK: ab 6 Regie: Hong Khaou Drehbuch: Hong Khaou Kamera: Ula Pontikos Darsteller: Ben Whishaw, Cheng Pei-Pei, Andrew Leung, Morven Christie, Naomi Christie u.a. |
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Der Freund des Sohns der Seniorin |
Chinesische Musik aus den 60iger Jahren und eine ruhige Kamerafahrt, welche langsam ein Zimmer erkundet, das in seinem Stil mit dem Jahrzehnt der Entstehung des Musikstücks zu harmonieren scheint. In dem von schwachem Tageslicht eines Wintertages erleuchteten Raum werden Einrichtungsgegenstände, Blumen und bereits verblichene Familienfotos behutsam von der alles abtastenden Kamera eingefangen, während eine ältere Frau reglos auf einem Stuhl den aus der Zeit gefallenen Klängen lauscht. Konservierte Erinnerungen und Einsamkeit sind in diesen ersten Szenen von Lilting förmlich spürbar.
Dann betritt Kai (Andrew Leung) den in einem Seniorenheim befindlichen Raum seiner Mutter Junn (Pei-Pei Cheng), und es kommt etwas Leben in die hauptsächlich aus Warten und Sehnsucht bestehende Existenz der älteren Frau, die sich trotz jahrzehntelangem Aufenthalt immer noch fremd in Großbritannien fühlt. Doch die lockere Konversation der beiden scheint immer wieder durchzogen von Schuldzuweisungen und Vorwürfen, will Junn doch endlich mit ihrem Sohn zusammenleben. Aus ihrer Sicht steht diesem Plan nur Kais Freund und Mitbewohner Richard (Ben Whishaw) im Weg. Dabei weiß Junn nicht, dass die beiden jungen Männer mehr als Freundschaft füreinander empfinden und seit Jahren ein Paar sind, denn ihr Sohn traut sich einfach nicht ihr seine Liebe zu Richard zu offenbaren. Dieser Besuch bei seiner Mutter soll tragischerweise der letzte Kais vor seinem Tod sein. Junn wird diese letzten gemeinsamen Minuten daher immer und immer wieder durchgehen. Sie kann ihren Sohn, ihre einzige Bezugsperson in dem ihr immer noch fremd erscheinenden Land, nicht loslassen, geschweige denn vergessen und versucht die letzten Erinnerungen an ihn förmlich zu konservieren. Doch nicht nur Junn sieht ihren Sohn in einsamen Augenblicken immer noch vor sich, auch für seinen Lebensgefährten Richard ist er noch in ihrer gemeinsamen Wohnung existent. Zwei Menschen trauern um die gleiche Person, ohne die gleiche Sprache zu sprechen, ohne sich wirklich jemals kennengelernt zu haben, schließlich hatte Kai nie den Schritt gewagt, die Wand des unausgesprochenen Geheimnisses über seine Homosexualität einzureißen.
Auch wenn die Ausgangssituation eines toten ungeouteten Partners und einer nichtsahnenden Mutter des Verstorbenen der von Xavier Dolans Film Sag nicht, wer du bist! ähneln mag, geht der kambodschanisch-englische Regisseur Hong Khaou bei seinem einfühlsamen Spielfilmdebüt Lilting einen viel behutsam-intimeren Weg als sein exaltierter kanadischer Regiekollege. Richard versucht der Mutter seines Freundes näher zu kommen, ihr irgendwie verständlich zu machen, wie viel Kai auch ihm bedeutet hat. Er heuert daher eine Übersetzerin an, die für Junn dolmetschen und vor allem zwischen ihr und dem sie im Seniorenheim stets hofierenden Alan (Peter Bowles) vermitteln und somit eine wirkliche Beziehung zwischen den beiden ermöglichen soll. Ob nun aus Verantwortungsgefühl, Schuld oder dem Wunsch der Mutter seines geliebten Kai einfach nahe zu sein; Richard lässt sich von der ablehnenden Haltung der alten Frau nicht beirren und versucht, sich für sie einzusetzen und ihr grundsätzlich negatives, von Eifersucht dominiertes vorgefertigtes Bild von ihm zu revidieren, wobei er es zu vermeiden sucht, ihr seine innige Beziehung zu ihrem Sohn zu offenbaren.
Während die tiefen Gefühle Richards für Junns verstorbenen Sohn und seine fürsorglichen Bemühungen ihr gegenüber letztlich eigentlich keiner Übersetzung bedürfen, um ihre Wahrhaftigkeit offenzulegen, lassen die von der Dolmetscherin kreierten Sprachbrücken zwischen Mandarin und Englisch die Beziehung oder Schwärmerei der beiden Seniorenheimbewohner nur komplizierter werden. Schließlich bestand bei den bisherigen stillen Zusammenkünften der beiden Senioren einfach ein unhinterfragtes Grundgefühl von gegenseitiger Sympathie, während die übersetzten Meinungen und Wünsche nun auch auf Ablehnung und Unverständnis stoßen können.
Zwischen ineinander verwobene Sequenzen aus Alltag und Erinnerungen an Kai sind es denn oft auch die stillen, von der wunderbaren Kameraarbeit von Urszula Pontikos eingefangenen Momente, welche besonders einnehmend das Gefühl der Einsamkeit und der Trauer um einen geliebten Menschen einfangen. Sentimental, aber niemals kitschig verkörpern dabei Pei-Pei Cheng und Ben Whishaw mit viel Sensibilität die beiden sich in ihrer Trauer annähernden Protagonisten, welche nicht in derselben Sprache kommunizieren können und einzig die Erinnerungen an Kai als Gemeinsamkeit teilen. Die feinen Beobachtungen und die intime, in sich ruhende Inszenierung lassen Lilting zu einem eindrucksvollen Film über Trauerarbeit und das Gefühl des Stillstands nach einem großen Verlust werden.