Deutschland 2021 · 157 min. · FSK: ab 16 Regie: Andreas Kleinert Drehbuch: Thomas Wendrich Kamera: Johann Feindt Darsteller: Albrecht Schuch, Jörg Schüttauf, Jella Haase, Ioana Iacob, Anja Schneider u.a. |
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Erst das Verglühen, dann das Glühen | ||
(Foto: Wildbunch) |
»Die Phantasie lebte, solange der Mensch lebte, der sich zur Wehr setzte.«
– Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands»Ich öffnete die Augen. Ihr Arm hing neben dem Bett herunter. Sie öffnete die Augen und sah mich an. Ich ließ mich zur Seite fallen und starrte zur Decke. Ich versuchte an die dünnen, weißen Hände zu denken, aber ich sah nur das undeutliche Bild eines bluten Hundes in einer Badewanne und ich verstand nicht, was es bedeuten sollte. Dann stand ich auf und zog mich an. Ich stecke die Zigaretten ein und ging zum Tisch. Ich öffnete das Kuvert, nahm die Urkunde heraus und las: Für vorbildliche Leistungen im sozialistischen Wettbewerb.
Bravo, sagte ich.
Was kann ich dafür, dass sie gerade mich ausgesucht haben, irgendjemand mussten sie doch finden.
Ich ging zur Tür und hörte sie hinter mir weinen. Jemand hatte das Licht auf dem Flur eingeschaltet. Ich trat auf die Straße. Ich suchte meine Streichhölzer, aber ich fand sie nicht. Spuren verwischen, dachte ich, mich ausradieren. Ich werde ihnen ein weißes Blatt vorlegen, wenn sie wiederkommen.
Ich steckte mir die Zigarette in den Mund und ging auf den S-Bahnhof zu. Er war leer wie meine Wut.«
– Thomas Brasch, »Nichts passiert« in: Vor den Vätern sterben die Söhne
Als ich während des diesjährigen Münchner Filmfests erstmals von Andreas Kleinerts Brasch-Film Lieber Thomas hörte, hatte ich keine Lust, mir den mit 150 Minuten überlangen Film anzusehen, und strich ihn aus meinem Sichtungskalender. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass nach Annekatrin Hendels so dicht suchender und überzeugender Dokumentation über die Familie Brasch zum Themenkomplex dieser schillernden DDR-Familie mit jüdischen Wurzeln, einem SED-Kader-Vater und seinen im Kulturbereich tätigen und zunehmend gegen den DDR-Staat aufbegehrenden Kindern noch etwas hinzuzufügen wäre.
Aber dann fiel mir ein, dass ich ja Braschs Erzählungsband »Vor den Vätern sterben die Söhne« in der Schule gelesen und Thomas Braschs Filme immer geliebt hatte, vor allem Domino mit Katharina Thalbach, von der ich damals noch gar nicht wusste, dass sie Braschs Frau war. Und so gab ich Lieber Thomas Monate später dann doch noch eine Chance.
Der Film überraschte und irritierte mich. Und mehr noch: ich war wirklich begeistert. Meine Frage, ob es nach Hendels Film noch eines Films über Thomas Brasch bedarf, war auf ganzer Linie beantwortet. Denn Regisseur Andreas Kleinert und Drehbuchautor Thomas Wendrich, der zuletzt das kluge Drehbuch für Christian Schwochows Je suis Karl geschrieben hat, ist eine Filmbiografie gelungen, die weitaus mehr als das übliche Biopic ist, die auch Risiken eingeht.
Zum einen erzählen Kleinert und Wendrich das Leben von Thomas Brasch seit seiner Kindheit bis zu seinem frühen Tod mit 56 Jahren. Sie porträtieren die sozialistische Kaderfamilie und werfen dabei auch Licht auf den dunklen Punkt in Hendels Dokumentation, Vater Horst, der hier nicht mehr nur als der sture, der Partei verpflichtete SED-Politiker gezeigt wird, der seinen Sohn nach dessen Aufbegehren im Zug der Proteste gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings persönlich der Stasi meldet und ihn damit ins Gefängnis bringt, sondern auch den schwachen und hilflosen Vater, der zwischen den Erwartungshaltungen seiner in Berlin unglücklichen Frau Gerda und seiner Loyalität zur Partei so wie seine Frau selbst zu zerbrechen droht und sich schließlich gegen den Sohn entscheidet, auch weil der Sohn den historischen Kampf, dem sich der Vater verpflichtet hat, nicht anerkennen will.
Lieber Thomas fokussiert aber genauso stark auf die Freunde und vor allem auf die Frauen in Braschs Leben, die ihm genauso Muse waren, wie es die Reibung an seinem Vater und an dem System DDR war. Dabei setzt der Film deutliche Schwerpunkte und wie Christoph in unserer Videobesprechung des Films andeutete, wäre eine Miniserie vielleicht sogar noch passender gewesen, um diese Geschichte, die ja auch eine Geschichte der DDR ist und dann auch eine Geschichte der BRD wird, noch ausführlicher zu erzählen und auch Personen wie Thomas Braschs erster Frau, der Liedermacherin Bettina Wegner, mehr Raum zu geben. Und vielleicht statt Jella Haase als Katharina Thalbach am Ende die Treppen hinaufgehen zu lassen, hätten wir am Ende dieser Serie Braschs und Thalbachs Tochter Anna Thalbach die Treppe von Braschs West-Berliner Wohnung hinaufgehen sehen. Und wie in einem Gespensterreigen von Geistern aus Zukunft und Vergangenheit sie und den am Ende isoliert und ausgebrannten Thomas dabei beobachten könnten, wie einer nach vorn blickt und der andere zurück.
Dennoch überzeugen auch diese Verknappungen. Vielleicht weil Kleinert und Wendrich beide DDR-sozialisiert sind und wissen, wovon sie erzählen, weil der gezeigte Alltag genauso wie die Feiern fast schon dokumentarischen Charakter haben, so dicht und dynamisch, mit den Personen verschmelzend, dringt die Kamera von Johann Feindt in die Wohnungen von Freund und Feind und in das Bett von Thomas Brasch und wird gerade im zentralen Teil mit einem überragenden Albrecht Schuch als Thomas Brasch ein Exempel darüber statuiert, dass eine Gesellschaft den Widerstand braucht, um sich immer wieder neu zu emanzipieren, auch wenn der Widerstand ein gebrochener Widerstand (und kein »idealer« im Sinn von Peter Weiss) ist, weil Thomas Brasch im Grunde gar nicht das eine Land (DDR) für das andere (BRD) verraten will, sondern im Grunde nur eine Reform, ein Leben in »Ehrlichkeit« wünscht.
Gerade hier, im Übergang vom ostdeutschen zum westdeutschen Leben, Mitte der 1970er Jahre, wird deutlich, dass Brasch alles andere als ein Rebel Without a Cause war, sondern die Kunst, das Schreiben, das Theater und dann der Film der Grund war, um sich zu reiben. Wenn nicht an der Familie oder einem schwer mutierten Staat, dann wenigstens an den Erwartungshaltungen seiner Umwelt. Statt den großen (Anti-) DDR-Roman zu schreiben, es lieber mit dem Schreiben erst einmal ganz sein zu lassen, und Filme wie Engel aus Eisen, Domino, Mercedes und Der Passagier zu machen, die mit dem Thema DDR nicht einmal in Ansätzen flanierten, Kapitalismuskritik mit Poesie verbanden und dennoch mit Preisen bedacht wurden.
Das wirklich Schöne an Lieber Thomas ist, dass Kleinert und Wendrich das Risiko eingehen, auch Braschs Kunst in ihren Film zu integrieren. Dass nicht nur die äußere Welt, das banale Leben um Liebe und Leid erzählt wird, sondern Lieber Thomas sich immer wieder anhört, wie eine von Braschs Erzählungen, wie seine Dramen, und sich nicht nur wegen des Schwarz-Weiss-Films auch so ansieht wie ein Film von Brasch. Wie bei Domino (»Schummel nicht«) werden auch hier Traum-Sequenzen in den Film montiert, die dann immer wieder Ausgangspunkt für das literarische und filmische Schaffen von Thomas Brasch sind oder einfach nur für das stehen, worüber man nicht sprechen, aber auch nicht schweigen kann.
Und dann findet Lieber Thomas auch noch Bilder von großer Zärtlichkeit für die wohl schwierigste Zeit in Braschs Leben, Bilder für ein Verglühen, das Assoziationen weckt an Braschs Zeit nach seiner Inhaftierung, als er als Erziehungsmaßnahme als Fräser im Berliner Transformatorenwerk Oberspree (TRO) beschäftigt war. Nur dass am Ende Thomas Brasch nichts mehr in den Händen hält, was noch in Form gefräst werden hätte können, DDR und BRD sind weg und nur mehr ein unantastbares Deutschland ist da, das Schreiben ist nur noch Qual, das Filmen passé, Beziehungen nicht mehr relevant, Mutter, Vater und Brüder tot. Es bleiben nur Späne aus Leben, Lieben, Filmen und Literatur – und ein großartiger Film wie dieser.
»Ich wollte noch nie ein Zeichen setzen. Und ich glaube nicht, dass Literatur die Aufgabe hat, Opposition zu machen. Dann braucht man 'ne Maschinenpistole, nicht 'nen Federhalter.« – Also sprach Thomas Brasch im Jahr 1990, mitten hinein in den deutsch-deutschen Honeymoon der Vereinigung.
Brasch war aus Instinkt ein Störenfried, und bis heute ist Brasch die Wunde in jener offiziellen deutsch-deutschen Geschichte, die wir uns gerne erzählen. Er war, obwohl aus privilegierten Verhältnissen und selbst privilegiert, ein Widerständler in der DDR, als es dort noch kaum sichtbaren Widerstand gab. Er war einer, der ausgewiesen wurde und in den Westen ging, ohne dort dem Westen nach dem Mund zu reden. Er war einer, der sich niemals und für nichts vereinnahmen ließ.
Unvergessen ist auch der Auftritt Braschs, der selbst nicht nur preisgekrönter Autor, sondern auch ein überaus erfolgreicher Filmregisseur war – zweimal liefen Spielfilme von ihm bei den Filmfestspielen in Cannes – bei der Verleihung des Bayerischen Filmpreises: »Die Widersprüche sind die Hoffnung... Ich danke der Filmhochschule der DDR für meine Ausbildung...« Und dann ging ein Buh-Konzert durchs Cuvilliés-Theater.
Braschs Biographie allein ist schon ein
Stoff, der wie ein Roman oder ein Spielfilm klingt.
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»Wo ich lebe, da will ich nicht sterben. Aber wo ich sterbe, da will ich nicht hin. Bleiben will ich, wo ich nie gewesen bin.« – Diese Zeilen schreibt Brasch in der ersten Szene dieses Films. Er schreibt nicht irgendwo. Er beschreibt einen Leib. Den Leib einer Frau.
Überhaupt wird es für manche Zuschauer ohne Frage eine Herausforderung werden, wie viel Nacktheit, wie viel nackte Weiblichkeit, wie viel Körper und Leib in diesem Film zu sehen ist, wie viel Sex und wie viel mehr Erotik. Und das in einem deutschen Film!
Die so Herausgeforderten müssen sich leider, leider umgewöhnen. Gewöhnen an andere Zeiten.
Dieser Film ist auch deshalb so verblüffend, weil er uns mit seiner Hauptfigur an alles Mögliche erinnert, was im leider gar nicht so vergangenheitsbewussten Deutschland der Gegenwart verschwunden ist, vergessen. Weil er uns an die Rituale erinnert, die seinerzeit mindestens in Studentenkreisen und in der Bohème gang und gäbe waren, die aber heute vollkommen vergessen sind, und für die Nachgeborenen unverständlicher als Naziaufmärsche aus den 30er Jahren: Die Anmachrituale, das Haudraufgehabe der Jungs, das Gebalze der Mädchen, die offene sexuelle Konkurrenz, die selbstverständliche, offensive Promiskuität. Verblüffend, wie weit wir davon entfernt sind. Und verblüffend, wie nahe der Regisseur uns das bringt.
Dieser Film ist auch eine Erinnerung an bessere Zeiten. Insbesondere an bessere Zeiten in der DDR. Politisch waren sie natürlich nicht sehr lustig. Aber menschlich und künstlerisch waren sie großartig. Nicht so verschimmelt und schmierig und niedlich wie in Dresens DDR-Filmen. Man vermisst diese Zeit, wie sie Andreas Kleinert uns zeigt. Aber man vermisst auch den politischen Brasch. Brasch war »no-nonsense«. Er hätte keinen Bock auf diese ganzen Nettigkeiten und Verdruckstheiten
der Gegenwart gehabt.
Er war der Einzige unter den ostdeutschen Emigranten oder Ausgewiesenen, der im Westen genauso unangepasst war wie im Osten.
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1945 geboren als Sohn deutsch-jüdischer Antifaschisten. Vater Horst wurde in der DDR stellvertretender Kulturminister, sein Sohn geriet schnell in Konflikt mit den Autoritäten. Als er 1968 gegen den Einmarsch des Warschauer Pakts in die CSSR und die Niederschlagung des Prager Frühlings protestierte, lieferte ihn sein eigener Vater an die DDR-Staatssicherheit aus. Thomas Brasch kam ins Gefängnis und musste sich danach, wie es hieß, »in der Produktion bewähren«. Daneben schrieb
er Gedichte und Erzählungen, von denen die wenigsten in der DDR veröffentlicht werden durften.
Mit dem Vater streitet er sich wie mit den DDR-Behörden: »Übertreibung ist der Treibstoff der Phantasie. ... Wenn wir hier behandelt werden wie Gefangene, dann sollen sich die Genossen auch nicht wundern, wenn wir uns dementsprechend verhalten.«
Bald wurde er aufgefordert, in den Westen zu gehen, und er tat es. In der Bundesrepublik konnte er als Künstler freier arbeiten, aber im Unterschied zu anderen DDR-Ausgebürgerten passte er sich auch dort nicht an.
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»Zuerst spürte ich seinen Kopf, der stark auf meine Blase drückte, und einige Minuten später den Schwanz, der in meinem Mund wedelte. Ich wollte nicht darüber nachdenken, wie der Wolf in mich hinein gekommen war und warum er verkehrt lag. Ich stieg in die Straßenbahn 63 und fuhr zum Krankenhaus Friedrichshain.«
Mit diesem Sätzen beginnt der Erzählband »Vor den Vätern sterben die Söhne«, der Thomas Brasch berühmt gemacht hat. Brasch war ein Autor der existenziellen und politischen Revolte und sein Schreiben war von auswegloser Unbedingtheit. »Vor den Vätern sterben die Söhne« war das erste Buch von Thomas Brasch, das im Westen erschien, 1977 nach seiner Übersiedlung aus der DDR.
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Jetzt erzählt der Regisseur Andreas Kleinert, selbst in der DDR geboren und aufgewachsen, das Leben von Thomas Brasch nach. Die Hauptrollen spielen einmal mehr Albrecht Schuch, offenbar gerade die Allzweckwaffe des deutschen Kinos, hier allerdings eine sehr wirksame. Und Jella Haase, die einmal mehr eine ebenfalls sehr ausgezeichnete Katharina Thalbach gibt.
Kleinert erzählt seine Geschichte souverän und überaus gelungen: Einerseits für ein heutiges Publikum soweit verständlich, dass dies nie ein Erklärfilm wird, sondern eben ein Spielfilm über einen Künstler, dessen Charakter, dessen Fühlen, aber vor allem auch dessen heute für viele nicht leicht zu verstehende politische Entscheidungen jederzeit nachvollziehbar, verständlich und in den allermeisten Fällen auch hochsympathisch, also emotional nachvollziehbar sind.
Und
Kleinert tut es so – und das ist nicht weniger wichtig! –, dass er seine Figuren nicht verrät. Denn man sollte sich auch in dieser Hinsicht nichts vormachen: Die heutige Kultur mit ihren Nivellierungen und ihren Infantilismen und ihrer Fixierung auf Unterhaltung wäre Thomas Brasch ein Graus.
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Auch Kleinerts Filmsprache ist relativ weit von der Filmsprache des Thomas Brasch und seinem neo-expressionistischen Stil entfernt. Aber hier macht das nichts. Denn es ist jederzeit erkennbar, nicht nur spürbar, sondern intellektuell und sinnlich nachvollziehbar, dass Andreas Kleinert seinen Gegenstand liebt, und dass dies ein zutiefst persönlicher Film ist. Man sollte sich hier an Kleinerts Anfänge erinnern: Sein Film Wege in die Nacht, mit dem auch er bei den Filmfestspielen von Cannes seine Weltpremiere feierte, ist der Ästhetik und dem Duktus von Thomas Braschs Kino verpflichtet, steht ihm sehr nahe.
Der Titel »Lieber Thomas« ist übrigens einem Brasch-Stück, »Lieber Georg«, entlehnt, das auch als Film existiert und von Georg Heym handelt. So wie Brasch sich Heym zum spirituellen Sparring-Partner nahm und dabei denkbar hoch ansetzte, tut dies auch Kleinert mit Brasch. Aber es ist nicht eitel, es ist eine Forderung an sich selbst, die einen Künstler verwundbar macht, öffnet und dadurch diszipliniert. Auch hierin, in dieser Haltung, nähert sich Kleinert seinem Objekt bestmöglich an.
In Lieber Thomas wie in Braschs Werk geht es um die Haltung eines Künstlers in der Welt, und um die Frage, wo Widerstand möglich, wo er sinnvoll ist, wenn die Verhältnisse eines alles vereinnahmenden Kapitalismus ihn selbst noch wieder zur Ware werden lassen – wie etwa gerade an der popkulturellen Vereinnahmung der »Fridays for Future«-Proteste gut erkennbar ist. Oder ob solch ein durch Gewissen und Werte motivierter Widerstand auch gegen sein
eigenes Unmöglichsein durchgehalten werden sollte – eben um des Gewissens willen.
Wie Brasch in München sagte: »Die Widersprüche sind die Hoffnung.«