Schweden 2020 · 231 min. Regie: Lisa Langseth Drehbuch: Lisa Langseth, Alex Haridi Kamera: Ulf Brantas Darsteller: Ida Engvoll, Björn Mosten, Reine Brynolfsson, Björn Kjellman, Gizem Erdogan u.a. |
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Das »anarachistische« Element im Dienst der »Liebe« – mit überraschenden Folgen... | ||
(Foto: Netflix) |
Ringel, Ringel, Reihe,
sind der Kinder dreie,
sitzen unterm Holderbusch,
machen alle husch, husch, husch.
– Ringelreihen, Kinderlied- und Reigen
Als Lisa Langseths Euphoria 2017 in die deutschen Kinos kam, war er auch sehr schnell wieder draußen. Ein Film über tödliche Krankheiten, eine symbiotische Schwesternbeziehung, Depression und Suizid in einer Sterbeklinik waren dann doch zuviel für das Kinopublikum, obgleich es Langseth souverän gelang, die oben aufgeführten K.O.-Kriterien in etwas völlig Neues und Überraschendes zu transformieren.
Diese fast schon aggressive Herangehensweise gegenüber klischierten Erwartungshaltungen nutzt Langseth nun auch in ihrer achtteiligen Miniserie Liebe und Anarchie, mit Folgen, die selten länger als 30 Minuten sind.
An der Oberfläche erzählt Langseth eine tagesaktuelle, schnell getaktete Geschichte aus dem schwedischen Bildungsbürgermilieu, das so aussieht wie in Ruben Östlunds The Square (2017). Ein kleiner, renommierter Belletristik-Verlag legt sich die Beraterin Sofie zu, um nicht nur für die digitale Zukunft besser aufgestellt zu sein. Doch Sofie merkt schnell, dass ihr selbst eine Beratung gut täte: denn sie provoziert nicht nur einen Kultur-Clash zwischen dem alten Cheflektor Friedrich (Reine Brynolfsson) und den jüngeren Vertretern im Verlagshaus, sondern gerät auch privat ins Schlingern. Sie spielt mit dem Gedanken an eine Affäre mit dem deutlich jüngeren Verlags-IT-Beauftragten Max (Björn Mosten), hadert mit ihrem zunehmend in Macho-Allüren aufgehenden Mann, verliert die Kontrolle über ihre beiden Kinder und auch über ihren psychisch labilen Vater.
Diese immer wieder an Euphoria erinnernden, dysfunktionalen Verhältnisse umschifft Langseth dieses Mal allerdings etwas anders als in Euphoria. Zwar steht auch in Liebe und Anarchie an erster Stelle, jegliche Erwartungshaltungen zu brechen, sehen wir etwa gleich zu Anfang Sofie nach dem familiären Morgentrubel im Badezimmer zu einem Porno auf ihrem Handy masturbieren und werden auch sonst so ziemlich alle Gender- und Beziehungs-Klischees angegangen – Hetero-Beziehungen genauso wie lesbische Verhältnisse, ist es endlich mal eine ältere Frau, die einen jüngeren Mann »angeht«.
Aber Langseth bricht auch mit den Erwartungshaltungen an die »hohe« Literatur, an Kultur an sich und bewegt sich in diesen Szenen ganz dicht an Ruben Östlunds The Square, mehr noch als sie wie Östlund komödiantische Elemente integriert, die Liebe und Anarchie zu einem so großen wie intelligenten Spass machen. Anders als Östlunds schwarzer Humor ist Langseths Humor allerdings weniger »schwarz« als »blau«, lässt sie sich in einer Folge sogar auf Slapstick ein, der allerdings auch deswegen so gut funktioniert, weil er völlig überraschend daherkommt.
Das Überraschende bei Langseth ist allerdings nicht die übliche Überraschung, sondern sie ist ähnlich doppelbödig konstruiert wie die ganze Serie. Ihr (überraschender) Humor nährt sich etwa aus den psychodramatischen Elementen, die stark an die Schule des Gründers des Psychodramas, Jacob Levy Moreno, erinnern: Um ihre Affäre vorerst nicht zu »sexualisieren«, entwickeln Sofie und Max ein Rollenspiel – in dem jeder dem anderen tagesaktuelle Aufgaben stellt, ihm eine Rolllenanweisung übergibt, die einersseits überraschend weil ungewöhnlich, andrerseits psychologisch begründet ist und die er einen Tag oder auch nur einen Moment lang erfüllen muss. Dadurch wird nicht nur die charakterliche Entwicklung des Personals und der Plot in ungeahnte Richtungen »geworfen«, sondern auch das Cliffhanger-Paradigma der Serienkultur so intelligent karikiert, dass einen vor lauter Twists fast Hören und Sehen vergeht.
Das »anarachistische« Element im Dienst der »Liebe« geht dann sogar soweit, dass Langseth nach zwei Dritteln alle komödiantischen Attitüden ihres Lebens- und Liebesreigens über den Haufen wirft und Liebe und Anarchie sich in eine reine Tragödie wandelt und man sich die Frage stellen muss, ob Langseths Serientitel nicht auch eine Anspielung auf Lina Wertmüllers so ähnlich angelegtes tragikomisches wie melodramatisches Lehrstück Liebe und Anarchie (1973) ist, aber unter gänzlich anderen gesellschaftlichen Prämissen.
Liebe und Anarchie ist seit dem 4.11.2020 auf Netflix abrufbar.