USA 2002 · 84 min. · FSK: ab 0 Regie: Chris Sanders, Dean Deblois Drehbuch: Chris Sanders, Dean Deblois Musik: Alan Silvestri |
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Stitch gibt Gas |
Die Etymologie des Begriffs »Alien« läßt sich auf das Lateinische zurückführen, wo »alienus« sowas wie »auswärtig, nicht verwandt, fremd« bedeutet. Ein Alien ist also ein Wesen, das anders ist als wir oder uns zumindest »anders« erscheint; anders, da man sich seine auswärtige Herkunft nicht ganz verdeutlichen kann; anders, da es in keiner familiären oder auch geistigen Verbindung zu uns steht; anders vor allem, da wir es nicht verstehen oder aber auch gar nicht verstehen wollen. Mit dem Alien schwingt immer auch eine gewisse Exotik mit, etwas, das uns fasziniert. Jedoch würde keiner darauf kommen, das wohl vertrauteste nicht-menschliche Geschöpf unserer Gesellschaft, den Hund, für ein Alien anzusehen, da er ja bekanntlich der beste Freund des Menschen ist/sein soll. Diese spezielle Beziehung Mensch/Tier ist sogar im Klassischen dokumentiert. Und auf der Suche nach Demjenigen, was die Welt im Innersten zusammenhält wundert sich der strebsame Hauptakteur nicht schlecht, als sich sein zugelaufener Pudel plötzlich in den Teufel verwandelt.
Was eines Hundes Kern ist, davon handelt auch der Film Lilo & Stitch, den uns Disney als allerneuesten seiner Zeichentrick-Streifen im sommerlichen Lichtspielhaus präsentiert. Es ist eine Geschichte, die ausnahmsweise mal tiefer geht, als man es eigentlich erwarten möchte. Der Streifen paßt einfach nicht in den Rahmen, den sich Disney in den letzten Jahren abgesteckt hat – durch die Produktion teils blauäugigen, naiven und überschwänglichen, teils schmonzettenhaften allzu leicht verdaulichen Popkornkinos. Lilo & Stitch wirft existentielle Fragen auf, die sich in einer bunten Parodie auf sämtliche Science-Fiction- und Comic-Scheinwelten einbetten. Munter wird mit Versatzstücken aus Filmen wie Alien, E.T., Men in Black und dem jüngesten Teil der Star Wars-Saga aber auch mit Cartoon-Fragmenten alla Bugs Bunny gearbeitet, welche sich durch mehr oder weniger sanfte Seitenhiebe auf das jeweilige Genre, Zitaten und Akzentuierungen oder stilistische Überzeichnungen und Karikaturen gegenseitig zu umwinden scheinen.
Die Story ist unkonventionell und komisch (auch für Erwachsene): Ein kleiner außerirdischer Unhold legt auf der Flucht vor seinen Verfolgern eine Bruchlandung auf Hawaii hin. Dort macht er Bekanntschaft mit den Herrschern seines neuen Exils, indem er sogleich unter die Räder eines Trucks gerät und aufgrund seines Äußeren im staatlichen Hundezwinger landet. Und ausgerechnet hier – am wohl unmöglichsten Ort im Universum – begegnet das kleine Ungetüm seinem interstellaren Pendant: zum ersten Mal macht es die Bekanntschaft mit der fünfjährigen Eingeborenen Lilo, die als Vollwaise und unverstanden von ihren naiven Freundinnen einen Hund als Freund sucht.
Somit beginnt die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft. Lilos neuer »Hund«, den sie ab sofort Stitch nennt, erfährt das Zusammensein mit dem kleinen Mädchen zunächst als bloße Zweckgemeinschaft, um vor seinen Häschern sicher zu sein und eine Fluchtmöglichkeit von der unfreiwilligen Inselgefangenschaft zu finden. Stitchs Versuche, vom Eiland zu entkommen, scheitern; sein launisches Gemüt heizt sich aufs derbste auf; was ihm nicht paßt, wird kaputt gemacht! Doch im
Kontakt mit der warmen familiären Atmosphäre von Lilo, deren älteren Schwester Nani und dem schwesterlichen Freund erhält Stitch seine erste Lektion in sozialer Gemeinschaftlichkeit. Mehr noch: er erkennt, daß er scheinbar das kosmische Gegenstück ist zu seiner »Besitzerin« Lilo: klein, eigensinnig-launenhaft, über alle Maßen intelligent, anstrengend und schwierig im Umgang mit dem etablierten erwachsenen Umfeld, outlaw und Außenseiter.
Stitch erkundet dieses neue,
ungewohnte Umfeld. Für die Bücher, welche er im Regal von Lilo findet, hat er kein Interesse; sie werden wütend in die nächste Ecke geworfen, bis auf das Märchenbuch mit der Bildergeschichte des »Hässlichen Entleins«, das ihm als eine Art Parabel seine eigene Situation schmerzlich bewußt werden läßt – er ist ein Alien; mehr noch: er ist das unerlaubte genetische Produkt außerirdischer Rüstungsforschung. Stitch wird sich bewußt, daß er an einem Punkt angelangt ist, wo Frage
nach seiner eigenen Stellung im Kosmos wichtiger wird, als die ziellose Flucht vor seinen Schöpfern und stellt sich vor dem aufgeschlagenen Märchenbuch und allein im nächtlichen Wald mit krächzendem Stimmchen die Frage des weinenden »Hässlichen Entleins«: »Wo bin ICH!??«
Obwohl Lilo & Stitch größtenteils im Kleid der Parodie oder zumindest der Komödie daherkommt, ist der philosophische Aspekt ein beherrschendes Faktum in diesem Streifen. Zwar droht vor allem zum Schluß ab und dann das Abgleiten ins Klischeehafte – das der Film jedoch ansonsten hervorragend aufs Korn nimmt. Im Konglomerat der Genre-Versatzstücke erscheint aber eine höhere Aussage: die Frage nach dem individuellen Sein, dem eigenen Selbst. Das
genetische Experiment Stitch, das es eigentlich nicht geben dürfte und dem bisher jegliche Daseinsberechtigung abgesprochen wurde, sucht nach Wärme und Selbstbestätigung, während seine Verfolger die irdische Mückenplage bedauernswert gutgläubig als schützenswertes Naturwunder betiteln. Vor einem Hintergrund von Mißverhältnissen zwischen Wirklichkeit und medialen Klischee wird Stitch und seiner neuen Familie im finalen Beisein der Repräsentanten der
Science-FICTION-Gilde durch die Alien-Präsidentin verwundert die Frage »WER SEID IHR?« gestellt. Die Antwort bleibt dem Zuschauer überlassen, der zu jener Gattung gehört, deren Individuen sich durch ihre selbst gebastelten Scheinwelten immer mehr vom Gegenüber und von sich selbst entfremden. Die Parodie hält uns den satirischen Zerrspiegel vor: WIR sind die Aliens. Der Spieß wird umgedreht und uns eine ungewohnte Perspektive eröffnet: das Absurde ist in der Wirklichkeit unserer
heutigen Gesellschaft zu finden, das Exotische nicht unbedingt im Urlaubsparadies Hawaii, sondern im fetten, übersättigen Urlauber, dem Homo Faber, der seinerseits von Lilo fotografisch festgehalten wird, da er mit Sonnenbrille, Eis und dem Sonnenbrand, der die bleichen Unterhemd-Stellen wundervoll zur Geltung bringt, allzu erbärmlich daherkommt.
Wer sind wir also, die wir uns so beflissen in unsere Cyber-Schein-Welten zurückziehen? Um dies zu erfahren sollten wir
vielleicht mal diese Frage klären, bevor wir nach den Sternen greifen und dem Kosmos der allzu derbsinnigen Farcen der modernen Medienlandschaft verfallen. Eine zusätzliche Moral läßt sich der Geschichte vielleicht auch noch abgewinnen: Elvis war vielleicht doch origineller als BroSis!