Irland/GB 2022 · 79 min. · FSK: ab 12 Regie: Andrew Legge Drehbuch: Andrew Legge, Angeli Macfarlane Kamera: Oona Menges Darsteller: Emma Appleton, Stefanie Martini, Rory Fleck-Byrne, Aaron Monaghan, Shaun Boylan u.a. |
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Faszinierender Mindfuckfilm | ||
(Foto: Neue Visionen) |
»I want to show you, how history can be made and unmade...« Dialogauszug
Es war einmal: Stellen wir uns einfach einmal vor, statt der Beatles, den Stones und David Bowie hätte die Geschichte der Popkultur in der Nachkriegszeit einen komplett anderen Verlauf genommen, und die Musik der Siebzigerjahre klänge wie eine Mischung aus Dieter Bohlen und Oktoberfest-Blasmusi. Dies, so das bestechende Gedankenexperiment, das dieser Film entfaltet, war tatsächlich eigentlich einmal unsere Geschichte. Glücklicherweise konnte sie im nachhinein verändert werden. Und das ging folgendermaßen...
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Alles beginnt mit zwei Schwestern, Martha und Thomasina. Sie sind Waisen, und recht wohlhabend, sehen gut aus und leben in einem wunderbaren großen Haus auf dem südenglischen Land. Es dauert nur Sekunden, da beamt uns der irische Regisseur Andrew Legge in seiner filmischen Zeitreise Lola zurück in die späten Dreißigerjahre. Es ist die Welt von Virginia Woolf, von T.S. Eliot, den »Cambridge Five«, von Winston Churchill und von Alan Turing, der die verschlüsselte Kommunikation der Deutschen im Zweiten Weltkrieg decodierte – der Goldene Herbst des British Empire.
Martha und Thomasina haben viel Zeit, um herumzutüfteln, sie sind ziemlich klug und experimentierfreudig und so erfinden sie eine merkwürdige Maschine namens »L.O.L.A.«. Es handelt sich um eine Art Zeit-Sicht-Gerät, mit dem sie wie mit einem Fernseher in die Zukunft blicken können. Die jungen Frauen benutzen das Gerät zunächst, um ihre eigene Zukunft zu erforschen, und entdecken dabei zum Beispiel im Jahr 1973 einen Sänger namens David Bowie.
Doch sehr bald verliert dieses
Vergnügen seine Unschuld: Die Schwestern erfahren nämlich auch vom bevorstehenden Zweiten Weltkrieg und sind vor moralische Probleme gestellt. Sollte man mit seinem Wissen in die Geschichte eingreifen?
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Sie beschließen, es zu tun und während der Luftschlacht von England die Bevölkerung anonym zu warnen, damit diese sich vor den deutschen Bombenangriffen schützen kann. Das fällt auf, und eines Tages entdecken Militärs ihr Versteck. Nun arbeiten die beiden für den britischen Geheimdienst – zunächst sehr erfolgreich.
Aber irgendwann entdecken sie, dass David Bowie aus der Zukunft verschwunden ist. Offensichtlich haben ihre Eingriffe ins Rad der Geschichte deren Verlauf und
damit die Zukunft verändert...
Es kommt noch viel schlimmer: Erst bricht eine diplomatische Krise zwischen dem Vereinigten Königreich und seinem engsten Verbündeten, den USA, aus, dann landen die Nazis an der englischen Küste und erobern London. Irgendwann ist dann das Schlimmste eingetreten: Die Nazis haben den Krieg gewonnen. Und statt von David Bowie, von Glam, Pop und Punk, wird die Popkultur von einem Stechschritt-Rabauken bestimmt.
Einige Jahre danach beschließt Martha, die das Geschehen und die Katastrophe, die durch ihre Experimente mit L.O.L.A. verursacht wurden, gefilmt hat, einen Aufklärungsfilm zur Warnung zu drehen und diesen in die Vergangenheit zu schicken, in der Hoffnung, dass Thomasina ihn dort abfangen und die gemeinsamen Fehler korrigieren kann. Das Kino soll zur Waffe der Freiheit werden. Dies ist der Film, der uns nun gezeigt wird. Er ist das, was wir im Kino sehen. Glücklicherweise hat Martha offenbar Erfolg gehabt.
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In seinem allerersten – mit dem sehr bescheidenen Budget von 1,2 Millionen Euro produzierten – Spielfilm ist Andrew Legge auf allen Ebenen, in Stil wie Story, ein Meisterwerk gelungen: ein Science-Fiction-Film, der in Form eines Home-Videos der Vierzigerjahre gedreht wurde. Der Film ist in seinen Drehbedingungen somit auch ein technisches Wagnis gewesen: Ausgestattet mit 16mm-Kameras und ohne Zusatzbeleuchtung, um den Realismus zu erhöhen, filmte der Regisseur
Martha, Thomasina und ihre Abenteuer.
Dies kombinierte er mit historischem Bildmaterial aus dem Archiv und mischte beides so elegant, dass es ununterscheidbar wird: Plötzlich paradiert die Wehrmacht in London, ist der Faschist Oswald Mosley britischer Premier, und Adolf Hitler persönlich besucht das Haus der beiden Schwestern.
So hat Legge einen durchaus realistisch wirkenden Film von seltener Originalität und fesselnder Atmosphäre geschaffen... Sein Ansatz erinnert an den Film It Happened Here, der bereits 1965 mit alternativen Realitäten und der unangenehmen Möglichkeit spielte, dass die Deutschen England erobert hätten. Und er erinnert natürlich an Chris Markers Klassiker La jetée, an den man schon wegen der komplizierten Zeitkalkulationen und verschiedenen, ineinander verschachtelten Zeitebenen denken muss. Auch hier geht es darum: Wie kann man in der Gegenwart dafür sorgen, dass die Zukunft nicht aufs falsche Gleis gerät?
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Insofern und wegen seiner konkreten Bezüge zur Gefahr durch Nazis aller Art ist Lola auch ein sehr aktueller Film. Er zeigt, wie nahe uns gegenwärtig die Gefahr durch den Faschismus gerückt ist – es geht hier keineswegs einfach um ferne Vergangenheiten.
Lola, der auf dem Festival von Locarno Premiere hatte, ist so originell wie aktuell, formal aufregend und zugleich unterhaltsam – ein echter Höhepunkt des zuendegehenden Filmjahres, ein Neujahrsfilm für Erwachsene, den man sich auf keinen Fall entgehen lassen sollte.