USA 2014 · 122 min. · FSK: ab 6 Regie: Bill Pohlad Drehbuch: Oren Moverman, Michael Alan Lerner Kamera: Robert D. Yeoman Darsteller: John Cusack, Paul Dano, Elizabeth Banks, Paul Giamatti, Jake Abel u.a. |
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Ausreichend Ecken und Kanten |
Das Allererste, das man sieht in Love & Mercy, ist ein Ohr in sehr sehr großer Nahaufnahme. Ein geniales Eröffnungsbild, ein Beginn, der uns sofort erzählt, worum es geht, und was wir erleben werden: Es geht ums Hören, um die Welt der Töne, und weil das Ohr ja auch eine Öffnung ins Innere ist, in den Kopf sogar, geht es eben auch darum: Dass wir hineingezogen werden, ein Tor geöffnet bekommen ins Innere eines Menschen. Dieser Mensch ist Brian Wilson, Kopf,
Herz und vor allem Ohr der »Beach Boys«, jener legendären kalifornischen Band, die in den Sechziger Jahren parallel zu den Stones und den Beatles musikalische Welterfolge am Fließband produzierte – Surfer-Poprock in Form eines Familienunternehmens der drei Wilson-Brüder.
Eine Sequenz dieser Hits etabliert gleich nach dem Anfang auch das öffentliche Bild der »Beach Boys«: »Surfin USA«, »Califorbia Girls«, »Help me«... Für uns klingt alles wie ein Hit nach dem anderen,
aber wie klingt es, wenn man Brian Wilson ist?
Im Zentrum steht nun das Leben Brian Wilsons zwischen den sechziger und den achtziger Jahren, zwischen Welterfolg und persönlicher Krise. In Hollywood nennt man solche Filme »Biopic«, aber Love & Mercy ist so vollkommen anders als die allermeisten »Biopics« seiner Art, so dass selbst gute Beispiele wie öde Routine wirken. Love & Mercy ist ehrlich, wo andere Werke sentimental sind, und unbequem, wo andere sich beim Zuschauer anbiedern. Fast wirkt dieser Film, als hätten seine Macher noch nie einen dieser populären 08/15-Filme gesehen, die vom Leben eines Musikers handeln – was für ein Glück.
Regisseur Bill Pohlad und seine Drehbuchautoren Oren Moverman und Michael Alan Lerner vermeiden die üblichen Stereotypen, in denen sich Amerika das Leben seiner Musiker- und Schowbiz-Stars gern erzählt: Als ein moralisierendes Traktat in der Dreiaktstruktur: Schuld (Pop-Erfolg), Sühne (Drogen- und Sex-Exzesse) und Erlösung (Nüchternwerden und als Spießer leben).
Denn zum einen geht es hier um das, was eigentlich immer im Mittelpunkt stehen müsste: Die Kunst, in diesem Fall die Musik. Im Zentrum des Films steht eine sehr ausführliche Sequenz, die den Prozeß schildert, in dem Wilson im Musikstudio das Album »Pet Sounds« einspielt. Wir sehen die obsessive Genauigkeit mit der Wilson jedes Detail überwacht. Ein Mischung aus Genie und Zwangsneurose. Inszeniert ist das mit viel Sinn für Ästhetik: Voller Freude an der heute wie »Old School« anmutenden analogen Technik der sechziger Jahre. Hier ist Wilson ganz in seinem Element, hier ist e ruhig und präzis, selbstsicher und fröhlich.
Damit erfasst der Film einen ganz bestimmten Aspekt von Kunst: Es gibt Menschen, die in nahezu jedem Lebensbereich versagen mögen, aber in der Kunst größer sind als alle anderen.
In allen anderen Bereichen des Lebens ist er ein Nervenbündel. Der Film dringt tief ein in die Abgründe und die Psyche Wilsons, zugleich versucht er sich nicht in billigen Psychologisierungen. Aber klar ist, dass Wilson für seine Begabung teuer bezahlen müsste: Ein prügelnder, sadistischer Vater, der ihn auch noch als Erwachsenen mit Welterfolgen und Millionengewinnen demütigt wie einen kleinen Schuljungen, später dann Drogenerlebnisse
Paul Dano und John Cusack spielen Wilson in den verschiedenen Dekaden. Beide passen glänzend zusammen. Die Sequenzen mit Cusack drehen sich vor allem darum, wie der schwer gestörte Wilson, der immer am Rande des Nervenzusammenbruchs vor sich vegetierte, und zeitweise entmündigt war, ins Leben zurückfindet. Dabei hilft ihm seine Frau, die enenso optimistische wie notfalls harte Melinda Ledbetter, eine Autoverkäuferin, glänzend gespielt in der dritten Hauptrolle von Elizabeth Banks. Zum Gegenspieler wird der düstere Therapeut und Guru Dr. Eugene Landy (Paul Giamatti).
So rundet sich Love & Mercy zu einem überaus originellen Film: Zeitporträt und Musik-Epos, begeisternd, klug und sehr unterhaltsam.
Wüsste man es nicht besser, könnte man meinen, das Leben des Beach-Boys-Mitgründers Brian Wilson sei von einem Drehbuchschreiber entworfen worden. Große Erfolge, psychische Probleme, exzessiver Drogenkonsum, Paranoia und Rehabilitierung sind Bestandteile einer bewegten Biografie, die der Filmproduzent Bill Pohlad in seiner zweiten Regiearbeit auf mitreißende, manchmal sogar erfrischend unkonventionelle Weise aufarbeitet. Einer Charakterstudie, die den berühmten Sänger und Songwriter als höchst sensiblen Künstler zeigt, der an sich selbst, aber auch an den Mechanismen des Showgeschäfts zerbricht.
Im Gegensatz zu vielen anderen Hollywood-Biopics hangeln sich Pohlad und seine Autoren Oren Moverman und Michael Alan Lerner nicht stupide an Wilsons Lebenslauf entlang, sondern konzentrieren sich auf zwei unterschiedliche Zeitabschnitte, zwischen denen Love & Mercy ständig hin- und herschwenkt. Der erste Strang spielt in den 1960er Jahren, als der kreative Kopf der Popgruppe „The Beach Boys“ auf dem Höhepunkt des Erfolges einen Richtungswechsel einleiten will. Weg von den etwas naiven Teenagersehnsüchten und Freiheitsoden der Surfer-Lieder, hin zu reflektierter und experimentierfreudiger Musik. Ein Projekt, das der ungern im Rampenlicht stehende Brian (Paul Dano) gegen den Widerstand einiger Bandmitglieder, allen voran seines Cousins Mike Love (Jake Abel), durchzusetzen versucht. Dass der junge Mann parallel immer häufiger Drogen nimmt, um seine inneren Dämonen zu bekämpfen, macht die Lage nicht gerade einfacher.
Der zweite Handlungsfaden führt den Zuschauer in die 1980er Jahre, wo uns ein seelisch und körperlich ausgemergelter Wilson (nun: John Cusack) begegnet, der gleich in einer der ersten Szenen bei einem Gespräch in einem Autohaus einen denkwürdigen Hilferuf absetzt. Verzweifelt wendet sich der frühere Starmusiker an die sympathische Verkäuferin Melinda Ledbetter (Elizabeth Banks), da ihn der windige Psychologe Eugene Landy (Paul Giamatti) auf Schritt und Tritt überwacht. Obwohl der bloß vordergründig wohlmeinende Vormund seinen Schutzbefohlenen mit Medikamenten gefügig macht, beginnt Melinda, sich ernsthaft für Brian zu interessieren.
Im direkten Vergleich fällt der zweite Erzählstrang sicher etwas ab, selbst wenn John Cusack als verunsichertes Drogenwrack überzeugt und Paul Giamatti in der Rolle des finsteren Therapeuten furios aufspielt. Insgesamt sind die Fronten etwas zu klar verteilt: hier Melinda als hilfsbereiter Love Interest und dort Landy als besitzergreifender, geldgieriger Teufel, der die Lage seines Patienten schamlos ausnutzt. Kleine Nuancen hätten dem Drehbuch an dieser Stelle sicher nicht geschadet, wobei es löblich ist, dass Pohlad verkitsch-romantische Ausschweifungen umgeht.
Einen unglaublichen Sog entwickelt das Biopic vor allem dann, wenn wir der Entstehung des bahnbrechenden Albums „Pet Sounds“ Mitte der 60er Jahre beiwohnen. In den fast dokumentarisch anmutenden Tonstudiosequenzen tritt uns der von Paul Dano leidenschaftlich verkörperte Wilson als Vollblutmusiker entgegen, der jede noch so aberwitzige Idee verfolgt, ständig auf der Suche nach ungewohnten Klängen ist und seine Mitstreiter zu Höchstleistungen anspornt. Ein kreatives Genie, das sich vom Schubladendenken der Branche freimachen will, gleichzeitig aber auch unter handfesten Selbstzweifeln und einer inneren Anspannung leidet, die sich auf der Ton-Ebene früh bemerkbar macht. Akustische Verfremdungen und ein fast schon unheimliches Anschwellen der Geräuschkulisse – wie bei einem Abendessen mit Freunden – weisen bereits auf den kommenden Zusammenbruch hin.
Da der Film klar auf die Person Brian Wilson zugeschnitten ist, bleiben viele Nebenfiguren – allen voran seine Bandkollegen – eher randständige Erscheinungen. Mit kleinen Abstrichen gilt das auch für seinen autoritären Vater Murry (Bill Camp), der die Beach Boys eine Zeit lang managt und – so zeigt es Love & Mercy – Brians musikalische Experimente von Anfang an kleinredet. Ein Konflikt, der aufgegriffen wird, um den emotionalen Druck des Bandleaders zu unterstreichen. Mag man am Ende ein wenig bedauern, dass die Macher die ganz großen Abgründe – etwa drastische Drogenabstürze – aussparen, hat der Film doch ausreichend Ecken und Kanten, um aus dem Gros der Musikerbiografien herauszustechen. Paul Dano als Brian Wilson ist eine Wucht. Und viele Songs der Beach Boys sind definitiv ein zweites Hinhören wert, wie der Autor dieser Zeilen überrascht feststellen konnte.