Lost River

USA 2014 · 95 min. · FSK: ab 16
Regie: Ryan Gosling
Drehbuch:
Kamera: Benoît Debie
Darsteller: Christina Hendricks, Iain De Caestecker, Saoirse Ronan, Matt Smith, Ben Mendelsohn u.a.
Überbordend, magisch… und zu viel des Guten

Den Film vor lauter Filmen…

Für’s Kinode­li­rium à la Jodo­rowsky reicht es noch lange nicht, für absurdes Theater im Sinne Piran­dellos erst recht nicht: Es sei denn indirekt – und eher unfrei­willig. Denn frei nach dessen Erfolgs­stück »Sechs Personen suchen einen Autor« forscht die durchaus hoch­klas­sige Besetzung (u.a. Chris­tiana Hendricks, Eva Mendes, Matt Smith, Ben Mendelsohn) in Ryan Goslings in jeder Hinsicht bemer­kens­werten Regie­debüt Lost River 95 Minuten lang nach einem Autor – und vor allem auch nach einem Regisseur.

Zu ungelenk wirken zahl­reiche Schnitte, zu lose die Zusam­men­hänge. Man muss schon mit sämt­li­chen Kino­was­sern gewaschen sein, um diesem »verlo­renen Fluss« wenigs­tens halbwegs folgen zu können. Und es hätte auch niemanden verwun­dert, wenn im Abspann Ex-»Talking-Heads«-Frontmann David Byrne »We're on a road to nowhere« gesungen hätte. Denn eins ist hier sicher: Nichts ist hier sicher! Schon nach ein paar Einstel­lungen weiß man: Hier traut sich einer was. Doch was eigent­lich genau?

Denn auch als Film-Farce mit grotesken Einspreng­seln und post­mo­derner Retroäs­t­hetik aus dem David-Lynch-Kosmos von Blue Velvet und Lost Highway, die von Beginn an als offen­kun­dige Refe­renz­werke dienen – geht Goslings Regie­debüt nicht durch. Wie also mittreiben auf diesem Lost River, ohne von ihm, wie Haupt­dar­steller Iain De Caes­te­cker (alias »Bondes«) in einer nächt­li­chen Boots­szene, wort­wört­lich verschluckt zu werden? Welche Art von Kino­mons­trum hat der smarte kana­di­sche Holly­wood­dar­ling da auf die Kritiker – respek­tive ein Publikum, nur welches? – letztes Jahr in Cannes losge­lassen? Ein erster Versuch.

Brecht'scher Film

Meine Dechif­frie­rung beginnt mit einem Verweis auf: Brecht. Ja, tatsäch­lich. Denn der Augs­burger Thea­ter­re­vo­luzzer hatte einst, zusammen mit Erich Engels, eine 32-minütige Friseur-Malheur-Groteske gedreht: Mysterien eines Frisier­sa­lons, 1922 in der Schwa­binger Tengs­traße erdacht und produ­ziert von den beiden genannten Theater- und Filme­ma­chern, die in ihrer jewei­ligen Frühzeit immer auch ein Faible für die anglo­phile Vaude­ville- und Music-Hall-Tradition pflegten. Der Film ist ein ebenso abgrün­diger wie skurriler, ja mitunter sogar ein recht abartiger Unter­hal­tungs­streifen der damals noch jungen Kunst namens Kino: (Kunst-)Blut spritzt liter­weise, osten­tativ gut wie schlecht gemachte Stunts und gleich­zeitig wage­mu­tige wie halb­herzig produ­zierte Deko­ra­tionen befeuern sich gegen­seitig in diesem Klassiker des »Bad-Taste-Cinemas«, das seine Arme durch Filme­ma­cher wie Refn, Tarantino oder Park Chan-wook beständig bis in die Gegenwart ausstreckt, in der Hoffnung auf Zuschauer und weitere Millionen für ihre oftmals schwer zu finan­zie­renden, modernen Myste­ri­en­spiele.

Ein »kleiner, dreckiger Film« im Sinne Fass­bin­ders, das zeigt die Produk­ti­ons­ge­schichte von Goslings wüstem Lein­wand­aben­teuer, war also für den Neuling auf dem Regie­stuhl – nach Refns Welt­erfolg mit Drive (2011) mit ihm in der Titel­rolle des wort­kargen Fahrers – von vorn­herein möglich. Ob die Produ­zenten von Warner Brothers aller­dings am Ende nicht doch noch Ratschläge bei modernen Schamanen ange­sichts dieses Nicht-Films einholen wollten, lässt sich aus der Ferne natürlich nicht klären – und bleibt damit de facto nur ein weiterer persön­li­cher Kommentar im Reigen der Kritiker en face jenes hölzernen, unle­ben­digen Kolosses oder schlichtweg ein zweiter Versuch der Einord­nung.

Möbius

Zu wirr sind die dispa­raten Plot­fetzen bis zum abschließenden bren­nenden Haus, das wieder aus einer der ersten Einstel­lungen stammt und wieder­holt im Film gezeigt wird. Unwei­ger­lich muss man da erneut an die filmische Möbi­us­schleife in Lost Highway denken. Denselben Effekt evozieren die abge­schnit­tenen Lippen, für die der wirklich böse Mann mit dem Namen »Bully« (Matt Smith im Drive-Gedächtnis-Glitzer-Fummel) verant­wort­lich ist, eine Reihe von Rollen­namen (z.B. Frank Booth bei Lynch und Frankie alias Landyn Stewart bei Gosling) und nicht zuletzt die alptraum­haften, strangen Nacht­club­sze­na­rien in der »toten Stadt«, wie Detroit bezeich­nen­der­weise mehrmals im Film von dessen scheinbar letzten Bewohnern mehrfach genannt wird: Desil­lu­sio­nie­rung und Endzeit­stim­mung überall. Oder: Keine Handlung, nirgends.

Kunster­zie­hung

In diesen Höllen­schlund der Unter­hal­tungs­in­dus­trie, eines der stärksten Bilder überhaupt, taucht die allein­er­zie­hende Mutter Billy – nein, nicht Isabella Rossel­lini, sondern Christina Hendricks – ein, um die Schulden an ihrem Haus abzu­stot­tern. Dabei gerät sie in die Fänge des ominösen Immo­bi­li­en­ban­kers Dave, den Ben Mendelsohn tatsäch­lich sehr beun­ru­hi­gend spielt: Ein Giftzwerg und Pervers­ling in derselben Person, dem Billy später wieder ungewollt als High-Tech-Nutte in einem namen­losen Lust­kerker begegnen wird: Eine mehr als obskure Raum­kon­stel­la­tion im Neon­schimmer, unterlegt mit sphä­ri­schen, aber auch sperrigen Synthie-Klängen von Johnny Jewel, dem Kopf der Elektro-Combo »Chro­ma­tics«, die auch schon Refs hoch­äs­t­he­ti­sche wie brutale »Knight-Rider«-Variation (»Drive«) musi­ka­lisch in Form gegossen hatten. Das war mein dritter Versuch.

Hier gelingen dem Regisseur Gosling in den stärksten Momenten seines Erstlings im Grunde wirklich wuchtig-rätsel­hafte, tatsäch­lich unge­se­hene Bilder »unter dem Radar« eines Major-Studios, wie es Dominik Graf einmal so passend in Bezug auf Fass­bin­ders Lili Marleen (1981) formu­liert hatte. Ein kleinerer, aber immerhin ein mutiger Glücks­fall ist Lost River dadurch innerhalb der globalen Welt­ge­schichte des Films, leider aller­dings nur in jeweils kurzen Momenten. Denn die Machart dieses Werks steht eindeutig auf Kriegsfuß mit den vertrauten Konven­tionen des Mediums, sicher­lich zur posthumen Freude des Regie­teams Brecht/Engels mit ihrem Star Karl Valentin, der es eben gerade nicht allen recht machte, sondern früh­zeitig und im Geiste des »Offenen Kunst­werks« (Umberto Eco) mit dem Medium selbst als grotesker Fran­ken­stein herum­ex­pe­ri­men­tierte.

Ungestüme Wohltat

Damals wie heute ist daher Ryan Goslings sicher­lich eigen­wil­liger, jedoch ehren­werter Ansatz, Regie zu führen, erst mal eine gute Idee in Zeiten welt­weiter »Marvel-Comic-Helden«-Verehrung via US-Major-Studios und Publikum sowie perma­nenter »Romantic-Comedy«-Berie­se­lung in mehr als homöo­pa­thi­schen Dosie­rungen. Seine krude Bild-Ton-Collage namens Lost River, die nun genau ein Jahr nach den lauten Buhrufen an der Côte d’Azur in den deutschen Kinos startet, ist dementspre­chend in erster Linie eine Wohltat für das Auge eines jeden Kritikers, weil dieser Film in erster Linie fordert, ärgert, provo­ziert. Dass sich Goslings unge­stümes Kino­ex­pe­ri­ment per se an keine spezi­ellen Kino­gänger richtet, steht natürlich jetzt schon fest, ist aber die Kernthese meines vierten Versuches.

Und noch ein Argument gibt es, sich auf dieses Kino­wagnis einzu­lassen: Barbara Steele (als »Bella­donna«). Wie einst Fass­binder, Tarantino & Co. hat sich der Kanadier den Coup anderer, namhafter Regie­kol­legen abgeguckt, so genannte »Altstars«, was in Zeiten gegen­wär­tiger Film-Massen-Prodik­tion stets auch nach »ausge­son­derte Schau­spieler« klingt, prominent und – wunderbar im Einsatz zu beob­achten – gegen den Strich zu besetzen. In Steeles Verkör­pe­rung der schrägen »Old Lady« gelingt dies dem Regie­neu­ling über weite Strecken ganz ordent­lich: Trau­ma­ti­siert, verstummt und sehr einsam klebt sie auf ihrem Wohn­zim­mer­sessel und gibt der populären engli­schen Rede­wen­dung »My home is my castle« somit eine ganz neue, sehr eigen­sin­nige Bedeutung. Das war jetzt der letzte Versuch – von wie vielen eigent­lich? Denn da ist schon wieder dieses brennende Haus...