Russland 2017 · 127 min. · FSK: ab 16 Regie: Andrey Zvyagintsev Drehbuch: Andrey Zvyagintsev, Oleg Negin Kamera: Mikhail Krichman Darsteller: Maryana Spivak, Alexey Rozin, Matvey Nowikow, Marina Wasiljewa, Andris Kelshs u.a. |
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Mama hat das Smartphone lieber |
Die Welt, in die wir zu Beginn von Loveless eintauchen, ist passend zum Titel tiefgekühlt. Es wird Winter in Russland, die ersten Kameraeinstellungen zeigen eine entlaubte Auenlandschaft. Ein Junge streift durchs Gehölz, schwenkt ein Absperrband wie eine Fahne. Fahl sind die Farben und kalt, ein entsättigtes Braun, Grün und stählernes Blau werden den Film bis zum Ende dominieren. Später werden Schutzwesten in der Dämmerung leuchten, ein leuchtendes Signalrot, das den letzten Herzschlag der Gesellschaft verkündet: ein professioneller, privater, aber auch paramilitärisch organisierter Suchtrupp durchkämmt die Flussauen nach dem Jungen.
Aljoscha, den Jungen, haben wir kaum kennengelernt. Wenig nach der Freiheit versprechenden Eingangsszene stiehlt er sich durch das Treppenhaus eines tristen Hochhauses davon, weg von seinen zankenden Eltern. Kurz zuvor hatte Aljoscha noch gehört, dass er in ein Internat abgeschoben werden soll, weil er die Eltern in der weiteren Lebensplanung hindert. Die Mutter hat einen reichen Liebhaber, mit dem sie zusammenziehen will, der Vater eine junge Geliebte, die ein Kind von ihm erwartet. Für Aljoscha ist da kein Platz mehr. Er soll geopfert werden, bevor dies jedoch passiert, entzieht er sich, verschwindet zugleich aus dem Film. Was am Ende geschehen sein wird, erfahren wir nicht. Vielleicht schließt sich mit den Absperrbändern zu Filmbeginn der Kreis der Erzählung zu den Schutztruppen, die vergeblich nach ihm suchen, die er aber überdauert hat?
Dem russischen Regisseur Andrej Zvjagintsev ist ein derart versteckter narrativer Hinweis zumindest zuzutrauen. Er hat sich mit kraftvollen Sozialparabeln wie zuletzt den mehrfach ausgezeichneten Leviathan als legitimer Nachfahre Andrej Tarkovskijs ausgewiesen, seine Können liegt im Erzählen in starken Bildern, in denen sich immer auch Anspielungen und Botschaften verstecken.
Loveless erzählt uns von einer dystopischen Welt ohne Empathie, jedoch voll Egoismus und Ehrgeiz, Zvjagintsev überzeichnet ohne Scheu. Kinder, so man sie in die Welt setzt, hindern einen an einem Leben, in dem Selbstverwirklichung keine Vokabel mehr ist, in dem sich vielmehr alles um Statussymbole dreht. Hier diktiert der soziale Spiegel das Wohlbefinden: Während die Mutter versucht, ihrem Sohn beim Frühstück Gesellschaft zu leisten, streichelt sie ihr Smartphone – Whatsapp, Snapchat, die Bilder der anderen. Während die Eltern streiten, ist ein Workout-Programm Fernsehen zu sehen.
Diese Welt – so ernst sie von Zvjagintsev gemeint ist – sollte jedoch nicht für allzu bare Münze genommen werden. Loveless ist eine Art überzogene Science Fiction, die in allernächster Zukunft spielt. Hier ist Selbstoptimierung die Religion des Volkes, während der orthodoxe Chef auf der Arbeit vergeblich versucht, die gesellschaftlichen Zellen intakt zu halten: Bei ihm darf nur arbeiten, wer ein ungetrübtes Familienleben vorweisen kann – eine Anlehnung an Orson Welles »1984« und den überwachenden Big Brother. In dieser Welt gibt es keinen utopischen oder nostalgischen Gegenentwurf mehr, auch »Väterchen Russland« hat die Gesellschaft aussortiert, die Alten sind arm und verbittert, das Matriarchat existiert nur noch als einpeitschende Matroschkas, die ihren Töchtern lehren, in der Ehe auf ihren Profit zu achten.
Zvjagintsev zielt mit Loveless ins Herz des modernen Russlands. Für ihn, das macht er mit seinem Film deutlich, trägt das postsozialistische Land den Schmerz über den Verlust des gesellschaftlichen Zusammenhalts in jeder seiner Zellen in sich. Er klagt auch an, seine Klage gilt der Oligarchie, dem leeren Reichtum, der sich noch nicht einmal dem Turbokapitalismus verdankt. Man ist eben zu Geld gekommen, woher das stammt, ist nicht wichtig. Der von den Eltern beauftragte paramilitärische Suchtrupp versucht bei alldem vergeblich, die emotionale Apokalypse aufzuhalten.
Das alles könnte platt sein, oder mit erhobenem Zeigefinger erzählt. Zvjagintsev inszeniert seine Hyperbel jedoch fließend und bildgewaltig, sein Kameramann ist wie in seinen Filmen zuvor wieder Mikhail Krichman. Trotz der unterschwelligen moralischen Ermahnung, die Loveless bereits mit seinem Titel auffährt, fühlt sich das in der Szenenfolge ganz undidaktisch und unprätentiös an. Die Bilder sind zwar symbolisch, jedoch nie ausgestellt in ihrer Aussagekraft, sie fügen sich ganz natürlich ins Sozialdrama der Reichen. Wenn die Mutter am Ende des Films wie eine Olympikone mit dem Schriftzug »Russia« auf ihrer Brust aufs Laufband geht, das sie auf dem Balkon ihrer neuen, schicken Wohnung aufgestellt hat, dann begreifen wir: die Vereinzelung der Menschen ist unüberwindbar geworden, und ein Land, in dem die Einzelkämpfer das Sagen haben, befindet sich unweigerlich in einer Sackgasse.
Es beginnt stark. Man sieht knorrige, entlaubte Bäume im Schnee, dann einen leeren Schulhof, alles ist recht heruntergekommen. Die Pausenglocke klingelt, der Hof füllt sich mit Kindern, die bald in alle Richtungen nach Hause gehen. Ziemlich gegen Ende kommt noch ein Junge heraus, er ist allein. Er geht in den Wald, schlendert durch braunen Matsch an den unbelaubten Winterbäumen vorbei. Er hat es nicht eilig. Irgendwo zwischen den Sträuchern findet er ein rot-weißgestreiftes Absperrband der Polizei. Er nimmt es mit, auf seinem von der Kamera konsequent auf Augenhöhe begleiteten Weg durch das Gestrüpp und wirft es ein paar Minuten später an einem Flussufer in die Äste, wo es hängen bleibt. Und schon jetzt ist da eine Ahnung, dass wir dieses Band später noch einmal sehen werden. Und es ist da die Ahnung von kommendem Schrecken, von Bedrohung…
Dann wechselt die Szene in eine Mittelstand-Wohnung in einer Trabantenstadt. Hier ist der Junge zuhaus. Es herrscht relativer Wohlstand. Ein Paar besichtigt die Wohnung, die Frau ist schwanger und lächelt glücklich. Über die Gespräche während dieser Besichtigung erfahren wir, dass der Junge Alyoscha heißt, dass seine Eltern sich scheiden lassen werden, dass seine Mutter zuviel trinkt, dass sie außer ihrem Liebhaber und der Welt ihres Smartphone nichts im Kopf zu haben scheint.
Am
Abend kommt der Vater nach Hause. Die Eltern beschimpfen sich würdelos, reden herzlos über das Kind, das beide eigentlich gern loswerden wollen, nach der Scheidung nicht behalten möchten.
Der Film begleitet diese Eltern nun durch den nächsten Tag. Beide arbeiten, beide haben Liebhaber, die Freundin des Vaters ist schwanger. So dringt die Zukunft in Form von Erwartungen, Hoffnungen und Ängsten in die Gegenwart ein, so erscheint der Alltag des Jungen schon als zukünftige Vergangenheit.
Wir sehen die Eltern auch in ausgiebigen Gesprächen mit ihren neuen Partnern. Auch bei Selbstbezichtigungen, laut vor sich hin schwätzend beim Tagträumen über zerronnene
Hoffnungen, beim Sex in verschiedenen Stellungen.
Alyoschas Mutter redet mit einer Arbeitskollegin über den Sohn, der »eine Memme« sei, ganz nach seinem Vater gerate, dass dieser auf eine Boarding School solle »und dann gleich in die Armee, da wird er lernen wie es läuft im Leben«. Eine andere Mutter, eine ältere Arbeitskollegin, spricht über ihre Tochter als »meine kleine Kuh«, sie habe »kein Lebensziel, keine Kultur«. Die Geliebte des Vaters spricht mit ihrer Mutter über den Zukünftigen, und bekommt einen Vortrag darüber, »wie man Männer behandeln muss.«
Alle Mütter in diesem Film sind irgendwie kalt, herzlos, böse. Dies ist kein frauenfreundlicher, erst recht kein mütterfreundlicher Film.
Flankiert werden diese Innenansichten aus dem russischen Familienalltag von Nachrichten im Radio. Dort plappern die Moderatoren von »öffentlicher Hysterie«, und von der »apokalyptischen Stimmung« in der »Petersburger Region«.
Der russische Regisseur Andreij Zvyagintsev war und ist seit jeher ein Misanthrop, ein Filmemacher, dessen Blick auf die Menschen und das menschliche Leben von grundsätzlichem Misstrauen und einem tiefen Pessimismus durchzogen ist. Allenfalls ein sarkastischer, zwischen Ironie und Zynismus angesiedelter Humor dämpft diesen Pessimismus ein wenig, schafft dem Zuschauer für einen kurzen Moment Erleichterung. Das Bild, das Zvyagintsev uns von seinem Heimatland Russland präsentiert, zeigt Dekadenz, schön gefilmten Schmutz und Amoral.
Zvyagintsevs letzter Film Leviathan brach mit diesen mitunter zu Russland-Klischees verfestigten Bildern. Ein erstaunlicher Film: Klug, direkt in seiner politisch-sozialen Kritik, überschritt er diese doch immer. Leviathan war visuell extrem stark, und mit monumentalen, zeitlosen,
mehrdeutigen und mitunter mythisch-kraftvollen Bildern, trotzdem ganz zeitgemäß – und er besaß ein Geheimnis.
Im Unterschied zu diesem Film ist Loveless keine Gesellschaftssatire, sondern ein moralisches Kammerspiel – doch auch dieses steckt voller sozialer Untertöne und Bezüge auf das Russland unter Putin.
Vor zwei Wochen erst war Loveless für einen Oscar für den besten nichtamerikanischen Film nominiert.
In der Sprache alttestamentarischer Moral formuliert, sündigen hier beide Eltern, wenn sie ihr Kind vernachlässigen, es nicht genug lieben, neue Familien gründen. Sie sind verdammt. Sie müssen bestraft werden.
Am darauffolgenden Morgen ist Alyoscha verschwunden.
Der zweite Teil des Films ist von der Suche nach dem Kind dominiert. Diese Suche wird zum Panorama des gegenwärtigen Russlands, so wie Zvyagintsev es uns zeigen will: Die Polizei untersucht zuerst, ob das Kind von den Eltern ermordet wurde.
Als das ausgeschlossen ist, tut sie wenig. Ein privater Suchdienst wird engagiert, der mit Suchtrupps die Trabantenstadt durchstreifen, öde Parks und längst verlassene alte Fabrikgebäude. Der Film schlachtet den zerschlissenen
Sowjet-Glanz genüsslich aus, kontrastiert ihn mit einer öden, darin seltsam schönen Natur, mit Morgennebel zwischen den Häuserpilzen, mit dem Zwielicht der Abenddämmerung.
So wird Loveless zu einer Parabel über die Liebesunfähigkeit Russlands, zum bitteren Portrait eines Landes, das von Egoismus und den moralischen Abgründen eines ungehemmten Kapitalismus geprägt ist.
Dies alles ist sehr genau, eindringlich, mit scharfem Blick und sehr kontrolliert inszeniert. Man könnte allerdings auch einwenden, dass der Film genau das macht, was er Alyoschas Eltern unverhohlen vorhält: Er benutzt das Kind für einen eigenen Zweck – für das Kind selbst interessiert er sich aber kein bisschen.
Zum Schluss des Films – es ist früh absehbar, dass Alyoscha, der wahrscheinlich ausriss, nie gefunden wird – springt der Film »drei Jahre später« in die Zukunft: Es ist das Jahr 2015. Wieder ist es Winter, die Eltern leben mit ihren neuen Partnern zusammen. In beiden Wohnungen laufen die gleichen Fernsehnachrichten. Propaganda-Berichte über den Bürgerkrieg in der Ukraine. Und Alyoschas Mutter joggt mit leerem Blick auf einem Laufband. Auf ihrem Jogginganzug steht mit dicker Schrift für alle, die es noch nicht verstanden haben: »Russia« – Russland.