Frankreich/B 2017 · 99 min. · FSK: ab 12 Regie: Martine Francen Drehbuch: Jacques Fieschi, Marine Francen, Jacqueline Surchat Kamera: Alain Duplantier Darsteller: Pauline Burlet, Géraldine Pailhas, Alban Lenoir, Iliana Zabeth, Françoise Lebrun u.a. |
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Auf dem Feld – ein Genrebild |
»Dann werden wir in der Lage sein, die männerlose Gesellschaft zu verwirklichen. Weil am genetischen Material einer männlichen Zelle erkennbar sein wird, was für eine Sorte Mann sich daraus entwickelt, können wir uns die Kosten und Mühen ersparen, diesen Menschen entstehen zu lassen und ein ganzes Leben lang durchzubringen. Falls uns der Typ gefällt, werden wir seine genetische Information direkt vom Ei in ein synthetisches Sperma praktizieren. Die Retortenbaby-Technik fände so ihre logische Vollendung. Nur Frauen würden noch gebraucht, als Produzenten der Eizellen und für das Austragen und Aufziehen der nächsten – rein weiblichen – Generationen.« – David Jones, Welchen Nutzen hat der Mann?, ZEIT vom 2.10.1987
Es ist die Zeit der Zweiten französischen Republik, Mitte des 19. Jahrhunderts. Napoleon III. hat soeben seine Präsidentschaft zur Diktatur umgemünzt, jetzt strebt der Nachfahre Bonapartes die Kaiserherrschaft an. Ein halbes Jahrhundert nach der französischen Revolution aber liebt das Volk seine Freiheit, das politische Ideal ist die Republik. Die Soldaten von Napoleon III. patrouillieren über das Land und verhaften alle, die nicht konform sind: Ein Kapitel der französischen Geschichte, das noch wenig bekannt ist, und das jetzt Marine Francen in ihrem Debütfilm Das Mädchen, das lesen konnte in seltener Schönheit aufleben lässt.
Bei Francen trifft es ein abgelegenes Dorf im südfranzösischen Lozère besonders hart. Alle Männer werden verhaftet, zurück bleiben die Frauen und Kinder. Über ein Jahr kommen sie ohne Männer aus, bewerkstelligen die harte Landarbeit, die Aussaat und Einbringung des Korns, das Füttern des Viehs. Im Winter wird genäht, gewebt und über die Lagerung der Ernte gewacht. Alles ist vom Zyklus der Natur vorgegeben.
Gezeigt wird diese männerlose Gemeinschaft inmitten der bestellten Natur. Wie Figuren aus der Genremalerei eines Julien Dupré gruppieren sich die Frauen neben Heuwagen, in der Mittagspause im Schatten eines Baumes, schneiden rustikales Brot und trinken Wasser aus schweren Tonkrügen. Die schlichten, enggeschnürten Leinenkleider leuchten pastellig in zartem Blau, Rosé und Hellbraun. Eine idyllische Kulturlandschaft wird hier auf die Leinwand gemalt, in der sich sogar der Himmel durch Schäfchenwolken optisch in Szene setzt. Ganz und gar unverhohlen stilisiert Francen die Landarbeit zu einer nostalgischen Angelegenheit, die zwar hart ist, aber deren Notwendigkeit mit Gleichmut ertragen wird.
Doch es fehlt etwas. Zunächst stillschweigend macht sich die Abwesenheit der Männer in den engen 4:3-Bildern bemerkbar. Diese bildliche Leerstelle wird bald zur wörtlichen. Die Gespräche der jungen Mädchen, die wie Fruchtbarkeitsallegorien in die malerische Natur eingebettet sind, kreisen darum, wie sich das erste Mal wohl anfühlt. Mit einem Blick auf die herumtollenden Kinder geben sie zu verstehen, dass ihre Wünsche beim Sex nicht halt machen. Am Ende machen sie einen Pinky Swear: Falls sich jemals wieder ein Mann in das Dorf verirren sollte, dann gehört er allen. Dem ganzen Frauenkollektiv.
Und dann kommt er, der Mann.
Le semeur, der »Sämann«, so heißt im Original der Film von Marie Francen. Der Sämann ist einer, der Samen in den fruchtbaren Boden einbringt und die Früchte später erntet. Damit sei alles verraten, was im weiteren passieren wird. Nicht umsonst jedoch hat Francen ihren Film auf diese kreatürliche Komponente perspektiviert. Im Titel akzentuiert sie die perfide biologische Ordnung der Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts: Indem hier der Mann von den Frauen zum Besamer und Lustobjekt degradiert wird, wird er einerseits der Subjektivität seines Handelns beraubt (was ihn zu einem frühen Feminismus-Opfer macht), zugleich wird aber die sozio-biologische Notwendigkeit erfüllt, Nachkommen zu haben. Dazu gehören beide Geschlechter.
Der deutsche Titel Das Mädchen, das lesen konnte gibt dem Film eine andere Perspektive vor. Denn nicht der Besamer ist der Held der Geschichte, Protagonistin ist die junge Violette (Pauline Burlet), Initiatorin des Mädchenschwurs, aber auch die einzige im Dorf, die lesen kann. Gelernt hat sie es von ihrem Vater, der wiederum als einziger kein Analphabet war. Wer lesen konnte, galt als freidenkender Anhänger der Republik, also auch als Staatsfeind der Diktatur. Und Jean (Alban Lenoir) – der Besamer darf jetzt einen Namen haben, denn unter dieser Perspektive erhält er den Status eines Subjekts – kann ebenfalls lesen. Ins Dorf bringt er gar ein Buch von Voltaire mit. Violette ist diejenige, die diesen kulturellen Samen weiter verbreiten wird, sie unterrichtet die Kinder des Dorfes im Lesen. Sie ist die Säerin, die Heldin des Films.
Diese genderübergreifende Dialektik von Befruchtung und Befruchtetwerden zieht sich durch den gesamten Film und macht ihn tiefgründig und komplexer als die idyllischen Ernte-Bilder es zunächst verheißen. Francen kann sich so zu den Genre-Meistern der Neuzeit rechnen, die in ihren Gemälden stets auch andere, allegorische und ideelle Botschaften chiffrierten. So ist dieser Film zwar eine ideologisch immer wieder auch zweifelhafte Anbetung der körperlichen Arbeit, zugleich aber, und das schließt die Bestellung der Felder mit ein, auch eine Rückbesinnung auf die Errungenschaften der Kultur und der Freiheit des Geistes.
Ein Dorf ohne Männer – das klingt zu schön, um wahr zu sein, zu bukolisch, zu passend fürs Jahr nach »#Me Too«, das könnte der Stoff eines feministischen Science-Fiction sein, oder eine politische Satire. Tatsächlich aber war dieser Zustand Realität in manchen Gegenden Europas, als es im 19. Jahrhundert zu Massendeportationen politischer Widerständler kam. So möglicherweise auch in Frankreich, im Jahr 1851. Gerade ist die Revolution in Paris gescheitert, ein neuer Kaiser ist an der Macht: Napoleon III. Für die Bauern in den südostfranzösischen Voralpen scheint sich damit nicht viel zu ändern. Ihr Lebensrhythmus wird scheinbar weniger von der großen Politik bestimmt, als von den Jahreszeiten, von Aussaat und Ernte, dem Zustand der Tiere und der Menge der Vorräte. Paris ist fern, selbst in die nächste Provinzstadt muss man ein paar Tage laufen.
Aber eines Morgens holt sie der Schrecken ein, in Form bewaffneter Gendarmerie. Gewehrkolben schlagen an die Tür und alle Männer werden verhaftet und deportiert, ohne Ausnahme. Die Frauen sind auf sich allein gestellt. Sie müssen nicht nur einfach weitermachen, die Arbeit der Männer mitübernehmen, zusätzlich zu der im Haus und der Kinderbetreuung – sondern sie vermissen auch den Ehemann, den Vater, den Liebhaber und den potentiellen Verlobten.
Aber irgendwie meistern sie die überaus schwierige Lage, gewöhnen sich daran, allein zu sein. Nur die Sehnsucht bleibt, und ihre Phantasien. Also schließen die Frauen einen Pakt: Würde doch einmal ein Mann vorbeikommen, dann werde man ihn teilen, in jeder Hinsicht
Und eines Tages, nach zwei Jahren Männerlosigkeit ist es dann so weit. Jean (Alban Lenoir) ist Schmied auf Wanderschaft, und hilft gegen Kost und Logis bei der Ernte.
Le semeur heißt dieser Film im Original, also »der Sähmann«. Das geht zurück auf »L’homme semence« – ein Buch, bei dem es sich möglicherweise um die Aufzeichnungen jener Bäuerin handelt, Violette Ailhaud, die 1835 geboren, erst 1919, sechs Jahre vor ihrem Tod, einen kurzen autobiographischen Text schrieb, in dem sie von den Ereignissen ihrer Jugend 1851-55 erzählt. Diese angebliche Chronik einer wahren Geschichte, deren Authentizität allerdings von manchen in Zweifel gezogen wird, auch weil in historischen Quellen nichts über Violette zu erfahren ist, bildet das Ausgangsmaterial von Francens Film. Eine wahre Geschichte, die wie eine Fabel klingt, oder doch eine Fabel, die sich als wahre Geschichte maskiert hat?
Wie dem auch sei, den Film betrifft das nicht. Als ich ihn sah, im September 2017, als er beim Filmfestival in San Sebastián den Preis für den besten Nachwuchsfilm gewann, wusste ich nichts von diesen vermeintlichen historischen Hintergründen. Und jene »wahren Geschichten«, auf die sich das Kino immer wieder und in unseren Fake-News-Zeiten besonders gern und mit besonderer Emphase beruft, sind sowieso überschätzt und allzuoft auch höchstens halbwahr.
Eine Fiktion also. Und der überaus seltene Fall, dass ein deutscher Titel einmal dem Film viel besser gerecht wird. Das Mädchen, das lesen konnte ist der weitaus angemessenere Titel für den Stoff. Denn im Zentrum steht hier nicht etwa der Mann, der erst nach etwa einer Filmstunde auftaucht, sondern das Leben der Frauen untereinander. Das ist keineswegs konfliktfrei. Auch unter den Frauen gibt es Konkurrenz und eine strenge traditionelle Hierarchie.
Unter den Frauen steht die Erzählerin Violette (Pauline Burlet) im Zentrum. Denn sie ist tatsächlich – wir befinden uns immerhin in der Mitte des 19. Jahrhunderts – die einzige Frau im Dorf, die lesen kann. Violette ist die Lehrerin für die Kinder. Aber sie arbeitet genauso auf dem Feld. Gelesen wird die Bibel. Ein paar Lexika. Die wenigen Zeitungen und politischen Flugschriften, die kursieren. Und Victor Hugo. Den Schriftsteller der »Miserablen« und ihrer Befreiung.
Dies ist eine Freiheitsgeschichte und eine Emanzipationsgeschichte. Und die Emanzipation aus der selbst und von anderen verschuldeten Unmündigkeit führt vor allem über Bildung, über Bücher, über die Fähigkeit, den eigenen engen Horizont zu überschreiten – am Anfang war das Wort, auch hier. Und das Wort macht frei.
Es geht in diesem ungewöhnlichen Film um solche Befreiungsmomente, um Freiheit, die aus der Not geboren wird: Um Selbstorganisation, um die
Solidarität von Frauen in einer Männerwelt, um Polygamie als Möglichkeit jenseits klassischer Paarvorstellungen, um die Relativierung eingefahrener Frauen- und Männerbilder jenseits der neuen genderpolitischen Korrektheit.
Es geht dabei nicht so sehr um den Mann, der den Frauen ebenso hilft, wie er ihr männerloses Leben auch stört. Die Männerfigur und der Umgang mit ihr hat in diesem Film auch etwas Banales, Kleines, das die Unabhängigkeit der Frauen relativiert.
Dies ist das Debüt der französischen Regisseurin Marine Francen. Bisher hat Francen als Assistentin für Michael Haneke und vor allem Olivier Assayas gearbeitet, und diese Schule bei einem Erben der Nouvelle Vague merkt man ihr an.
Francen erzählt in Bildern. Sie hat sich mit ihrem Kameramann Alain Duplantier für das klassische Academy-Format in 4:3 entschieden. Es sagt vieles aus über unseren derzeitigen Verlust an Filmbildung und den Verfall historischer Kenntnisse, dass schon die Verwendung dieses Maßstabs auch in ansonsten sehr seriösen Filmkritiken überhaupt zum Thema gemacht wird und Autoren zu ihr bemerken, Francen »verwehre« ihren Figuren »die Weite des normalen Kinobildes«, behaupten, 4:3 sei »selten«, und »das Format der ersten TV-Geräte« – so einige Fundstücke dieser Tage.
Dazu ist zu bemerken, dass immerhin nahezu sämtliche Kinofilme vor 1953 im Academy-Format gedreht wurden, wenn nicht 4:3, dann im noch quatdratischer wirkenden 5:4 – also zum Beispiel die Werke von Lang und Murnau, Dreyer und Renoir, Chaplin und Keaton, Hitchcock und Lubitsch, oder auch Vom Winde verweht. Aber noch in der Gegenwart wird das Format gar nicht so selten verwendet: Etwa von Wes Anderson, Paul Schrader, Gus Van Sant, Kelly Reichardt und vielen Europäern.
Francens Bilder gehen statt in die Breite in die Tiefe. Statt nebeneinander sieht man die Personen hintereinander. Es ist die Kargheit der Bergwelt, die Härte des Lebens,
Manchmal ist ihr Film vielleicht etwas zu vorsichtig, und nutzt seine vielen schönen Ansätze nicht gut genug. Aber immer bleibt er eindrucksvoll und unverwechselbar. Dies ist ein besonderer Film. Sinnlich, klug, politisch, feministisch und daher hoch aktuell, auch aber nicht nur, weil er in weiten Teilen von Frauen geschrieben, gedreht und produziert wurde.