Italien/F/D 2019 · 129 min. · FSK: ab 6 Regie: Pietro Marcello Drehbuch: Maurizio Braucci, Pietro Marcello Kamera: Francesco Di Giacomo, Alessandro Abate Darsteller: Luca Marinelli, Jessica Cressy, Denise Sardisco, Vincenzo Nemolato, Carmen Pommella u.a. |
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Nicht nur Macht, auch Liebe korrumpiert... | ||
(Foto: Piffl Medien) |
He was a man without a past, whose future was the imminent grave and whose present was a bitter fever of living.
― Jack London, Martin Eden
Als Jack London 1909 seinen Roman »Martin Eden« veröffentlichte, glich sein Leben ein wenig dem von Bob Dylan, nachdem dieser sich 1966 nach seinem legendären Motorradunfall ins Privatleben zurückgezogen hatte und nicht mehr live auftreten wollte. Auch Jack London hatte der frühe Ruhm durch seine Reportagen und Romane wie »Ruf der Wildnis«, »Der Seewolf« und »Wolfsblut« stark verunsichert. So wie Dylan Jahrzehnte später entschied sich auch London für einen Rückzug. Er baute sich seine Yacht »Snark« und reiste ab 1907 für zwei Jahre durch die Südsee, um sich durch die Fremde und die unabgelenkte Konfrontation mit sich selbst seinen eigenen Dämonen zu stellen – und seinen wohl autobiografischsten Roman zu schreiben. Ähnlich wie vor ihm Charles Dickens mit David Copperfield (1849), aber mehr noch wie eine Melange aus Knut Hamsuns »Hunger« (1888) und »Victoria« (1898) entwarf London in »Martin Eden« ein Porträt des Künstlers als junger Mann, das wie bei Hamsun von bitterer Armut, autodidaktischem Lernwillen und einem politischen Impetus geprägt war, der die Klassenverhältnisse erst mit einer Liebesbeziehung zu einer Frau aus guten Verhältnissen und dann mit eigener Literatur überwinden sollte. Doch anders als bei Dickens, Hamsun oder James Joyce in seinem suchenden Selbstporträt fanden London und sein Martin keinen Frieden – Ruhm und Macht hatten ihn unwiderruflich korrumpiert. So wie London seinen Schriftstellerhelden Martin Eden sich für den Suizid entscheiden lässt, hat sich auch London 1916 (wahrscheinlich) für den Tod entschieden, nicht jedoch ohne 1914 in einer ersten Verfilmung seines ernüchternden Romans einen Cameo-Auftritt zu geben.
Seitdem gab es weitere Verfilmungen. 1949 The Adventures of Martin Eden und 1979 einen von RAI und ZDF koproduzierten Vierteiler fürs Fernsehen. Und nun Pietro Marcellos auf flirrendem 16mm-Material gedrehte Adaption, die die Handlung zwar von Oakland nach Neapel verlegt, aber Londons so wuchtigen wie zärtlichen, aufbegehrenden wie defätistischen Roman seinem historischen Korsett entreißt und ihn zu einer zeitlosen Geschichte formt.
Denn in dieser Geschichte ist zwar alles wie bei London, folgen wir einem mit Luca Marinelli großartig besetzten Martin Eden durch sein mühsames Matrosen- und Proletarierleben und sein Selbststudium der Literatur, sehen ihn sich politisieren und demonstrieren und durch seine Beziehung zu Elena Orsini (Jessica Cressy) Gesellschaftsklassen überwinden und berühmt werden.
Und wie bei London wird Eden auch bei Marcello durch Ruhm, Reichtum und auch die Liebe korrumpiert. Aber Marcello schreibt Eden nicht nur ein anderes Ende, sondern findet über eine so ungewöhnliche wie mitreißende Filmsprache den Bogen in unsere Gegenwart. Denn zum einen verschneidet Marcello virtuos zum Teil eingefärbtes dokumentarisches Archivmaterial aus den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts mit seinen eigenen 16-mm, Super 16 und 35-mm gedrehten Passagen, eine Technik, die auch literaturhistorisch in die Zeit passt und an die Collage-Techniken von Dos Passos Manhatten Transfer oder Döblins Alexanderplatz erinnert und Martin Eden in seiner »realen« Zeit kongenial verwurzelt.
Zum anderen erweitert Marcello die Zeit- und Handlungsebenen bis in die 1980er Jahre, indem er über Musik, Mode und Autos aus acht Jahrzehnten die Geschichte ihrer Zeit entreißt und seinen Helden nicht nur an Ruhm und Reichtum leiden lässt, sondern die abschwächende (linke) Politisierung der westlichen Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Ulrich Becks Gedanken zu Risikogesellschaft und Individualismus mit einbezieht.
Das mag ein wenig theoretisch und aufgesetzt klingen, ist in Marcellos Martin Eden aber nur ein assoziatives Angebot, das man annehmen oder auch »links« liegen lassen kann. Genauso kann man diesen wunderschönen, wundertraurigen Film auch einfach nur genießen: wegen seiner wunderbaren visuellen Ästhetik, seiner atemberaubenden, lyrischen Fotografie und seinem völlig transzendentalen erzählerischen Impetus.