Deutschland 2016 · 98 min. · FSK: ab 0 Regie: Julian Rosefeldt Drehbuch: Julian Rosefeldt Kamera: Christoph Krauss Schnitt: Bobby Good Darsteller: Cate Blanchett u.a. |
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Die Wandlungsfähige: Cate Blanchett |
Im April dieses Jahres schrieb »artechock«-Autor Christoph Becker für uns zu Julian Rosefeldts Kunstinstallation »Manifesto«. Jetzt kommt die Multi-Channel-Installation als Film ins Kino. Mit dem medialen Wechsel und der Migration innerhalb der Räume kultureller Praxis (vom Museum ins Kino) offenbaren sich die Unterschiede, Vorzüge und Nachteile von White Cube vs. Black Box für ein monumentales Werk von über zwei Stunden. Vor allem die Linearität des Kinofilms, der hintereinander zeigt, was zuvor als konzertierte und in ihren Einzelvideos aufeinander abgestimmte 13-teilige Simultan-Installation zu sehen war, macht alle Ausstellungskenner skeptisch. Hier leicht gekürzt die Erinnerung daran, worum es bei Manifesto eigentlich geht.
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»Ich bin im Krieg mit meiner Zeit, mit der Geschichte, mit jeglicher Autorität, die in festen, verängstigten Formen steckt.« (Lebbeus Woods)
Allein die Ankündigung einer 13-teiligen Filminstallation ist eigentlich schon eine Zumutung. Hat man doch als mehr oder weniger Kunstinteressierter schon viele enttäuschende Erfahrungen mit Videos in Museen gemacht. Man wollte doch eigentlich in großen, hellen Räumen schöne Ölgemälde sehen und findet sich plötzlich, nachdem man den schweren schwarzen Vorhang beiseitegeschoben hat, unsicher tastend in einem kleinen, dunklen Raum wieder, in dem man wie ein zu spät kommender Kinobesucher mitten in die Filmhandlung platzt und sich nach einem freien Platz umschaut. Nach zwei Minuten fragt man sich dann zum ersten Mal, ob sich ein Weiterschauen lohnt – man möchte ja noch die anderen Bilder sehen – und ärgert sich, dass man nicht auf das winzig kleine Schild mit dem Hinweis auf die Filmdauer geachtet hat. Dazu kommen noch die teilweise filmästhetisch wenig ansprechende Gestaltung und der sehr assoziative Inhalt des Gezeigten. Fazit: Ein intensives Einlassen auf künstlerische Videos lässt sich mit einem zeitlich durchschnittlichen Museumsrundgang kaum vereinbaren. Und jetzt über zwei Stunden nur Videos schauen?
Die zweite Zumutung: Textliche Grundlage der Filminstallation des in Berlin lebenden deutschen Künstlers Julian Rosefeldt sind Ausschnitte aus ganz unterschiedlichen Manifesten, angefangen mit Marx und Engels' kommunistischem Manifest aus dem Jahr 1848 bis hin zu einem Text des Filmemachers Jim Jarmusch aus dem Jahr 2004. Manifeste? Waren das nicht diese langweiligen, stets etwas pubertär und größenwahnsinnig, jedenfalls schon wenige Jahre später völlig anachronistisch wirkenden Texte, die man im Deutschunterricht (DADA) oder Kunstleistungskurs (Futuristisches Manifest von Marinetti) zuletzt gelesen hat?
Beim Ausstellungsbesuch fällt zunächst die überragende Bildqualität auf (aufgenommen mit einer digitalen Kinokamera, Arri Alexa XT Plus). Jeder Film zieht einen wie ein Sog in eine jeweils ganz eigene Räumlichkeit mit seiner spezifischen Atmosphäre, sei es ein Friedhof, eine Müllverbrennungsanlage oder das Esszimmer einer konservativen amerikanischen Kleinfamilie. Jeder Film erzählt eine kleine Geschichte aus einem eigenen Lebensuniversum. Da ist die professionelle Nachrichtensprecherin im Fernsehstudio, die Einsamkeit ausstrahlende Arbeiterfrau, die zu ihrer Arbeit in der Müllverbrennungsanlage fährt oder die exzentrische Choreographin samt futuristischem Ballett. Bis man dazu kommt, wirklich auf die Texte zu achten, kann man sich schon satt sehen an der Verwandlungskunst Cate Blanchetts, die jede Rolle mit einer unfassbaren Authentizität verkörpert.
Es ist kaum vorstellbar, dass die gesamten Dreharbeiten in nur 12 Tagen abgeschlossen wurden, denn in jeder Rolle zeigt Blanchett einen anderen Dialekt und eine komplett andere Körperhaltung und Mimik. Zudem hatte sie eine ungeheure Textmenge zu bewältigen. Man nimmt ihr die betrunkene Punkerin in der schummerigen Bar ebenso selbstverständlich ab wie die pädagogisch wertvoll agierende Grundschullehrerin im Klassenzimmer. Kaum wiederzuerkennen ist sie als obdachloser Mann in einer apokalyptisch anmutenden Ruinenlandschaft (gedreht in den ehemaligen amerikanischen Abhöranlagen im Westen Berlins). Erfahrung mit einer Männerrolle hatte die Australierin ja schon als Bob Dylan im Film I’m Not There machen können. Das Gespräch über diesen Film gehörte zum Entstehungsprozess des Manifesto- Projektes, das Rosefeldt mit Blanchett in Teilen gemeinsam erarbeitete.
Es ist schon allein faszinierend, in die verschiedenen Lebenswelten einzutauchen, die einem in ihrer extremen räumlichen Gegensätzlichkeit das Gefühl vermitteln, in zwei Stunden eine Reise durch alle relevanten Soziotope und Gesellschaftsschichten der (westlichen) Welt zu unternehmen. Dazu kommt die Begegnung mit den außergewöhnlichen Texten, die Rosefeldt aus ungefähr sechzig Manifesten zu jedem Film zu einer ganz eigenen Collage kondensiert hat. Diese Textebene eröffnet Spannungsfelder und zusätzliche Interpretationsräume im Kontrast oder im Zusammenklang mit den erzählten Geschichten, die unendlich erscheinen. Dabei gibt es eher lustige Effekte, wenn zum Beispiel die überstrenge und gänzlich humorfreie Mutter beim Tischgebet »a piece of shit« erwähnt (aus einem Manifest des Pop-Art-Meisters Claes Oldenburg) und sich ihre kleinen Söhne daraufhin heimlich verschmitzt lachend anschauen. Manche Sätze wirken dagegen wie ein Kommentar zu dem Gezeigten, etwa wenn der Obdachlose durch die Ruinenlandschaft schlurft und dazu aus dem Voice over die Worte tönen: »An old world is dying; a new one is being born. Capitalist civilization […] is in the process of decay«. Auf jeden Fall ergeben sich in der Konfrontation der meist älteren Texte mit den modernen Lebenswelten frische und quicklebendige Kombinationen und teilweise verwirrende oder inspirierende neue Aussagen.
Für Rosefeldt spielt dabei auch die weibliche Perspektive eine besondere Rolle, wie er in einem Interview zur Entstehung der Filminstallation ausgesagt hat: »In parallel, I began to sketch different scenes in which a woman talks, ending up with sixty short scenes, situations right across various educational levels and professional milieus. The only thing these draft scenes had in common was that they are being performed today, and that a woman is holding a monologue.« (Interview mit Julian Rosefeldt auf ACMI)
Weil alle Einzelfilme als Endlosschleife simultan und räumlich und akustisch nicht deutlich voneinander abgetrennt auf drei Etagen (zählt man die Empore als eine Etage mit) laufen, entsteht ein neugierig machendes Neben- und Ineinanderfließen der Bilder und Töne. Zwischendurch schaut man schnell mal zum benachbarten Bildschirm und fragt sich, in welche Rolle die Schauspielerin wohl im nächsten Video schlüpfen wird. Dazu verknüpft Rosefeldt mit einer überraschenden Idee alle
Teile der Installation: Jeweils gegen Ende der Filme kommt es zu einer akustischen Gleichschaltung aller Filme, bei der Blanchett in jeder ihrer Rollen kurzzeitig in einen suggestiven Singsang in verschiedenen Tonhöhen verfällt und damit einen musikalischen Chor-Effekt erzeugt, der die gesamte Darstellung fokussiert und gleichzeitig zusammenführt.
Beabsichtigt oder nicht: Leitmotivisch durchzieht alle Räume der Ausstellung die irgendwann penetrant Aufmerksamkeit
beanspruchende Musik der Beerdigungsszene. Ist das ein Symbol des großen Abgesanges auf die westliche Kultur? Auf jeden Fall beinhalten die meisten ausgewählten Manifestotexte eine kritische Sicht auf ihre jeweilige Zeit und einen emanzipativen, nach Befreiung und Aufbruch strebenden Impetus einer jungen Generation, wie es auch im eingangs zitierten »Epilog« der Ausstellung zu lesen ist: »I’m at war with my time.«
Manifesto kann man sich, will man sich mehrmals anschauen, weil es so viel zu entdecken gibt, weil hier so viele ästhetische und intellektuelle Qualitäten zusammenwirken und weiterwirken, weil hier auch einfach jemand das Filmhandwerk perfekt beherrscht.
Jetzt kann die Installation noch einmal ganz neu entdeckt werden, wenn sie im Kino als Single-Channel-Film auf der großen Leinwand zu sehen ist.