Großbritannien 2005 · 124 min. · FSK: ab 6 Regie: Woody Allen Drehbuch: Woody Allen Kamera: Remi Adefarasin Darsteller: Scarlett Johansson, Jonathan Rhys-Myers, Emily Mortimer, Matthew Goode, Brian Cox u.a. |
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Dostojewski in London: Woody Allens filmischer Gesellschaftsroman Match Point |
Der Hinweis ist so platt, dass man ihn nicht zu ernst nehmen sollte: »Schuld und Sühne« von Dostojewski ist die derzeitige Lieblingslektüre von Chris. Aber ein bloßer Zufall ist der Titel natürlich auch nicht. Denn bald, sehr bald schon wird Chris sich in ähnlicher Lage befinden, wie Raskolnikow, der Held des Buches, der seines Lebens nicht mehr froh wird.
Im ersten Bild von Woody Allens neuem Film Match Point, seinem besten seit längerer Zeit, sehen wir einen Tennisball sanft das Netz touchieren. Alles ist in Zeitlupe photographiert, deswegen wirkt es, als der Ball einmal, zweimal auftropft, und hätte sich in der Luft gemächlich weiter um sich selber dreht, so, als halte er einen Moment inne, als überlege er sich, welche Richtung er einschlagen soll, ob er links oder rechts vom Netz zu Boden fallen will. Wo er dann fällt, ist völlig egal, denn die Botschaft haben wir verstanden: Eine kleine Berührung, ein minimaler Unterschied, ein bloßer Zufall ist es, der manchmal über ein ganzes Spiel und ein Leben entscheidet.
Wir erinnern uns: Melinda and Melinda war bereits solch ein Spiel aus Zufall und Vorsehung. Eine Versuchsanordnung über das Dunkle und das Helle unserer Existenz, die zwei Seiten der selben Sache durchspielt.
Dass Allens neuer Film also Matchball heißt, ist in diesem Zusammenhang multiplizierte Ironie in typischer Allen-Manier: Ein Matchball ist die entscheidende Chance, um ein Spiel zu gewinnen, das, worauf ein Spieler hinarbeitet. Wer einen Matchball hat, steht kurz vor dem Ziel. Aber es ist noch nicht der Gewinn selber; Matchbälle kann man vergeben, vielleicht kommt die Chance nie wieder, und oft genug ist es eben nur ein dummer Zufall, der über Sieg und Niederlage entscheidet. Zugleich bedeutet ein »Match« im Englischen auch »Liebesverhältnis«. Und schließlich ist Chris, die Hauptfigur, ein Tennislehrer. Sein Können und sein Beruf bringen ihn in seiner Heimatstadt London, wo nun erstmals ein Allen-Film spielt, in engen Kontakt zu den alten »guten« Familien des Königreichs. Ganz nahe ist er dran und gehört doch nicht dazu.
Dann aber gelingt es Chris, einen sozialen Matchball zu verwandeln: Er lernt Chloe kennen, die Schwester eines seiner Kunden. Das blasse Mädchen spürt instinktiv, dass sie hier auf das grobe lebendige Gegenstück zu ihrem überzüchteten sonambulen Wesen getroffen ist und verliebt sich in ihn, der ihre Liebe eher akzeptiert, als erwidert – auch, weil er durch Chloe Zugang in jene Kreise und Verhältnisse erhält, nach denen er sich sehnt. Plötzlich wird er eingeladen zu die Jagdausflügen und Schlosswochenenden, wohnt in einem Loft mit Themse-Blick, wird vom Chauffeur chauffiert und vom Schwiegervater in spe protegiert. Chloe und Paul heiraten, und nur ein leichter Schatten von Langeweile und Glücksverzicht liegt über diesem unausgesprochenen Arrangement.
Da lernt Chris das neurotische US-Starlet Nora kennen, die derzeitige Freundin seines Schwagers. Unmittelbar fühlen sie sich, fast gegen ihren Willen, voneinander angezogen, als würden sie instinktiv ihre Verwandtschaft, die Gemeinsamkeit ihres Schicksals wittern. Sie beginnen ein Verhältnis, und eines Tages wird Nora schwanger
Ist das nun Tragödie oder Komödie? Bei Woody Allen muss es beides sein. Genau und voller Feinsinn schildert der Regisseur diese Geschichte zweier Aufsteiger. Mit der kühlen Ironie, vor allem aber der unerbittlichen Logik eines Gesellschaftsromans von Austen oder Thackeray beobachtet und entlarvt er die Rituale der Klassen, dekonstruiert sie – um sie doch insofern zu bestätigen, dass auf den Aufstieg unerbittlich der Fall folgt, auf die Erfüllung und Bestätigung aller Wünsche die erneute Infragestellung. Zughörigkeit, »das Blut« setzt sich, so scheint es, am Ende doch durch, und Aufsteiger bleibt Aufsteiger. Sicher kann hier niemand sein, der es nicht schon immer war.
Jonathan Rhys-Meyers spielt Chris glänzend genau in dieser Kombination aus Unsicherheit und Begehren. Lauernd, voller Verlangen blickt er sich um, wie ein Raubtier, das sich von den Tischen der Reichen einen großen Batzen reißen will. Schon seine ein wenig zu kräftige Statur, der minimal gedrungene Gang, die etwas zu undistanzierte Höflichkeit unterscheiden ihn von der verfeinerten Oberschicht. Das gilt auch für die von Scarlett Johansson nicht minder präzis verkörperte Nora, die schön, aber ein klein wenig zu vulgär ist, und darum nie und nimmer dazugehören kann. Der Blick, mit dem Allen uns dies alles sehen lässt, ist selbst ein großbürgerlicher: Er entlarvt, lässt uns Zeichen lesen, und darum das Geschehen in seiner Notwendigkeit erkennen, noch bevor es sich ereignet.
Thackeray trifft auf Dostojewski, weil diese so überlegen ausgebreitete Ausgangssituation zum Drama mutiert, in dem jeder den Überblick verliert, und der Zuschauer nicht mehr amüsierter Beobachter bleibt, sondern aufgewühlter, unmittelbar Beteiligter wird. Denn zum Typus des Aufsteigers gehört, dass er gewissenlos agiert – sonst scheiterte er schon früh. Doch das Gewissen meldet sich zurück, und wie bei Raskolnikow ist es mit der Tat nicht getan. Man muss auch mit ihr fertig werden.
Wie in Verbrechen und andere Kleinigkeiten hat Allen mit Match Point ein Gesellschaftsportrait gedreht, das zugleich moralisches Lehrstück ist und eine bei diesem Regisseur überraschende bittere Note enthält. Präzis, giftig und witzig ist diese elegant inszenierte Anatomie eines ganz normalen Verbrechers aus Statusangst ein sehr eindrucksvoller Film.