Deutschland/Finnland 2018 · 95 min. · FSK: ab 0 Regie: Stefan Westerwelle Drehbuch: Stefan Westerwelle, Ingo Schünemann Kamera: Julia Daschner Darsteller: Mikke Rasch, Nick Holaschke, Sabine Timoteo, Tommi Korpela, Roy Peter Link u.a. |
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Wie nur kitten, was längst zerbrochen ist? |
»Wir müssen, fern allem Idealismus, der uns nur überforderte, zuerst die eigene Person mit allen Unzulänglichkeiten akzeptieren, Geduld auch mit uns selbst erlernen. Dann könnten wir darauf verrauen, dass den Einsichten in die Mechanismen der Verlogenheit eine neue Aufrichtigkeit nachreift.« – Arno Plack, Ohne Lüge leben
Erst vor ein paar Tagen fragte mich mein 7-jähriger Sohn Jonathan, ob Notlügen in Ordnung seien. Ich bejahte spontan und versuchte mit ein paar Beispielen zu erklären, warum ich Notlügen für moralisch richtig halte. Er wirkte erleichtert, denn er hatte im Hort gerade selbst zum ersten Mal eine Notlüge fabriziert und war sich unklar, ob das auch richtig war. Erst als ich wieder allein war, musste ich an die Konsequenzen denken, begann ich selbst zu zweifeln, dachte ich nicht nur an Arno Placks Buch, sondern auch an Stefan Westerwelles Verfilmung von Salah Naouras Kinderbuchbestsellers Matti und Sami und die drei größten Fehler des Universums.
In Westerwelles Film sieht sich der 10-jährige Matti hilflos einer zunehmend dysfunktionalen Familienrealität ausgesetzt: sein 5-jähriger Bruder Sami ist gestresst, weil er einem Aprilscherz auf den Leim geht, Mattis Eltern befinden sich nicht nur wegen ihrer prekären finanziellen Verhältnisse im Dauerstreit, und als der Bruder von Mattis Vater (Tommi Korpela) aus Finnland auf Besuch kommt, sieht sich Mattis Vater einer alten Geschwisterrivalität ausgesetzt, die Lügen der übelsten Sorte nach sich zieht. Wie so oft in schwierigen Familienkonstruktionen, fühlt sich auch hier das Kind für das Unglück der Familie verantwortlich und versucht zu kitten, was längst zerbrochen ist. Und nimmt, als es nicht anders geht, auch die Lüge zur Hilfe, so dass die Familie schließlich unter völlig falschen Erwartungshaltungen in Finnland landet.
Dieser Plott verspricht zwar endlich wieder einmal eine Abkehr von der heimeligen Legorealität, die sich in den letzten Jahr als deutscher Kinderfilmstandard etabliert hat (siehe etwa Hexe Lilli rettet Weihnachten) – abgesehen natürlich von Ausnahmen wie Ente gut! Mädchen allein zu Haus, die Königin von Niendorf oder dem diesjährigen Preisträger für den besten Deutschen Kinderfilm der deutschen Filmkritik, Nur ein Tag – doch gelingt es Westerwelle im ersten, in Deutschland spielenden Teil seines Films, weder Drehbuch noch sein Ensemble unter Kontrolle zu bringen.
Immer wieder wundert man sich über die verquere, einer schrägen Logik folgenden Geschichte; mehr noch aber stören die schauspielerischen Entgleisungen. Fast jeder Dialog sperrt sich gegen die zugrunde liegende inszenatorische Idee, was vor allem bei den an sich realistisch angelegten Streitgesprächen der Eltern spürbar wird. Denn gerade diese viel zu selten im Kinderfilm gezeigte Realität wirkt, obwohl plausibel eingeführt, aufgesetzt und durch ein bizarres Overacting immer wieder völlig deplatziert und bemüht.
Dass das nicht unbedingt an den Schauspielern liegt, wird deutlich, als der Film nach Finnland wandert. Mit diesem Schritt emanzipiert sich Westerwelles Matti & Sami von fast allen seinen Fehlern im Vorfeld: das Ensemble spielt auf, wirkt plötzlich authentisch und auch der Story gelingt nun eine ausgewogene Balance zwischen Leichtigkeit und dem Eingeständnis, dass das Leben halt durchaus eine schwierige Angelegenheit sein darf. Und zwar eine, die sich im normalen Alltag dann doch vielleicht am besten mit Aufrichtigkeit und einer durchaus erlaubten, schmerzhaften Offenheit und damit auch ganz gut ohne Lüge meistern lässt.