Deutschland 2018 · 180 min. · FSK: ab 16 Regie: Philip Gröning Drehbuch: Philip Gröning, Sabine Timoteo Kamera: Philip Gröning Darsteller: Josef Mattes, Julia Zange, Urs Jucker, Stefan Konarske, Zita Aretz u.a. |
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Allemal eine Augen-Weide |
»Was ist eine Melodie? Wir glauben zu wissen, was eine Melodie ist (…) Die Melodie ist nicht der jeweilige Ton, sondern ihre Abfolge.«(Aus dem Film)
Schon vor achtzehn Jahren hatte der deutsche Autorenfilmer Philip Gröning das erste Drehbuch zu diesem Film fertig, und es spricht tatsächlich nicht für die deutsche Filmförderung, dass dieser Film achtzehn Jahre lang – immerhin ein ganzes Teenagerleben lang! – verhindert wurde, verzögert, verschoben, auf die lange Bank geschoben – wo doch Oliver Stones Natural Born
Killers, an dieser Film gelegentlich erinnert, zur gleichen Zeit ein Welterfolg war.
Endgültig verhindern ließ er sich nicht – jetzt kommt Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot ins deutsche Kino, endlich. Es geht darin um das Erwachsenwerden und das in einer Weise, die weh tut, die uns also nicht gleichgültig lässt. Ein riskantes, herausforderndes, mutiges Geschwister-Gesellschafts-Drama, das belegt, warum Gröning zu den interessantesten
Regisseuren des deutschen Kinos gehört.
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Sommer Sonne Denken: Sie heißen Robert und Elena. Sie sind zwei schreckliche Kinder, ein Geschwisterpaar, zweieiige Zwillinge. Julia Zange spielt Elena bezaubernd als Mischung aus altkluger Nymphe und böser Fee; Josef Mattes den Robert als angry young man mit Spätpubertäts-Allüren. Beider Eltern lernt man gar nicht kennen in diesem Film, es gibt keine sogenannte »Backstory«, keine psychologische Erklärung der Figuren, aus der heraus man wüsste, wo sie eigentlich herkommen, was sie im Grunde so bewegt; man begleitet die beiden einfach durch die entscheidenden 48 Stunden ihres Lebens.
Zusammen verbringen sie einen Nachmittag auf einer Sommerwiese inmitten wogender gelber Kornfelder, irgendwo auf der schwäbischen Alb, sie lernen fürs Abitur – unter anderem Philosophie. Heidegger zum Beispiel.
Da fällt dann zum Beispiel die Frage: »Wie kann etwas vergehen, das ein Recht hat, zu sein?« Sie lesen auch die Literatur der Romantik: »Die Gegenwart ist ein Schnittpunkt«, heißt es bei Novalis' »Heinrich von Ofterdingen«.
Sie verbringen die Zeit aber auch mit
Spielen und Wetten. Diese Wetten werden zunehmend riskanter, gefährlicher.
Was schon früh im Raum steht, ist das sexuelle Erwachen, die tabuisierte Geschwisterliebe. Tatsächlich leben die beiden in einer für alle anderen Menschen unzugänglichen Welt. Ihre Gesten und Spiele drehen sich oft um das Spiel mit dem Tabubruch, um sexuelles Begehren, das sich die beiden eigentlich nur in inzestuösem Sex miteinander vorstellen können. Es ist aber vor allem eine unschuldige Zuneigung, ein zartes Herumtasten umeinander und um das Leben, ein ihm Ausweichen, um das es hier geht.
Mehr als der Inzest ist der Abschied von der Kindheit das Sujet, und die Verweigerung des Erwachsenwerdens. Hier ist der Film auf hochinteressante Weise aktuell: Gröning interessiert sich für die Phänomene der Regression, des neuen Infantilismus, die Sehnsucht nach dem Kokon, dem Rückzug, den ungezügelten Emotionen, und den Wunsch, wütend und unreif sein zu dürfen – und demgegenüber die Lust an der Verweigerung gegenüber der Vernunft, der Emotionsbändigung, der
Disziplin – der Wissenschaft.
Wie infantil, wie regressiv ist unsere Gegenwart? Das ist die untergründig hier immer präsente Frage.
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Es ist ein sehr sinnlicher Film, die Grillen zirpen, das Korn wogt im Wind, es wird die Schönheit der Natur zelebriert, die Nähe der Menschen zur Tierwelt.
Trotz allem ist dies kein naturalistischer Film, sondern ein Realismus, der zum Teil anachronistische Elemente in den Vordergrund rückt, der vielleicht aber eher in einem Traumreich spielt oder im Reich der Philosophie und der Dichtung.
Das unter all dem liegende Thema ist nicht etwa Gewalt, auch wenn diese ausbricht, nicht etwa Philosophie, auch wenn diese oft und gern zitiert wird, sondern es ist das unweigerliche Verschwinden der Kindheit, und die Verweigerung des Erwachsenwerdens. Robert und Elena verschließen sich vor der Welt auf einer offenen Wiese, ihre Interaktionen sind manchmal zärtlich und dann wieder aggressiv.
Es geht um das Ende der Kindheit, und es liegt eine Gefahr in diesem Moment. Die Ereignisse eskalieren.
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Wenn Bonnie und Clyde Martin Heidegger gelesen hätten, oder der Schwarzwälder Philosoph öfter mal in ein Freiburger Kino gegangen wäre – bei solchen Tagträumen bekommt man eine Ahnung von Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot.
Hier kann man sehen lernen durch den Film und seinen Regisseur. Dieser Philip Gröning ist ein Solitär im deutschen Kino: Ein Autorenfilmer, dessen Werke immer intelligent sind und immer sehr genau. Jeder seiner Film ist anders, jeder Film lohnt. Man erinnere sich an den Dokumentarfilm Die große Stille, an das Roadmovie L’amour, l’argent, l’amour.
Grönings Filmemachen ist von zwei Grundhaltungen bestimmt, die in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen: Einerseits »form follows function«, das Sujet des Films bestimmt in Grönings Kino die Form – mit dem Effekt, dass jeder Film an der Oberfläche unterschiedlich aussieht, wenn auch Grönings Handschrift bei genauerem Hinsehen immer erkennbar wird.
Die zweite Grundhaltung: Kino ist für Gröning ein Erfahrungsraum, kein Informationsvermittler. Es geht um
innere Veränderung der Zuschauer. Gröning steht radikal gegen die grassierende Erklärmanie des deutschen Kinos. Bilder sind ihm wichtig; Psychologie ist unwichtig. Wenn wir neue Menschen kennenlernen, wissen wir von ihnen schließlich auch kaum etwas.
Das deutsche Kino ist intellektuell nicht herausfordernd, sondern schwach, erst recht im Vergleich zu anderen Kinematographien, das Kino von Gröning schon. Im deutschen Kino wird nichts Ernsthaftes verhandelt, bei Gröning
schon. Unterforderung des Zuschauers ist seine Sache nicht, hier wird man auch als denkendes Wesen respektiert.
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Mein Bruder heißt Robert und ist ein Idiot ist nicht nur klug und schön, nicht nur herausfordernd und mutig, dies ist ein wunderbares hochspannendes Zaubermärchen um wilde Leidenschaften und letzte Dinge. Ohne Frage einer der allerbesten deutschen Filme der letzten Jahre.
Und über allem steht die Sonne des Sommers. »Nur die Sonne war schuld«, heißt es schon bei Camus.