Dänemark/D 2014 · 104 min. · FSK: ab 12 Regie: Anders Thomas Jensen Drehbuch: Anders Thomas Jensen Kamera: Sebastian Blenkov Darsteller: Mads Mikkelsen, David Dencik, Nikolaj Lie Kaas, Søren Malling, Nicolas Bro u.a. |
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„Alles wesentliche Erkennen betrifft die Existenz.“ |
Das letzte Geständnis kommt nicht von Herzen, sondern aus der Körpermitte. Die zeigt die Videobotschaft des soeben verstorbenen Vaters, für die hatte er sich kurz vor seinem Tod selbst mit verkehrt und doch wieder richtig eingestellter Kamera aufgenommen. So entnehmen der introvertierte Feingeist Gabriel (David Dencik) und sein impulsiver Bruder Elias (Mads Mikkelsen) des Vaters Stimme, dass nicht er ihr Erzeuger war.
Ein Jahrzehnt ließ sich Anders Thomas Jensen nach Adams Äpfel Zeit für etwas Neues. Vier Kinder später und dadurch offensichtlich um viele Denkanstöße reicher dreht er mit Men & Chicken mal wieder am ganz großen Themenrad, bei dem die falsche Vaterschaft nur der Ausgangspunkt ist: Die ungeheuerliche Erkenntnis lässt die beiden ungleichen Geschwister aufbrechen, um den leiblichen Papa kennen zu lernen, der auf einer undicht besiedelten Insel leben soll. Doch statt eines ehrwürdig ergrauten Wissenschaftlers treffen sie dort auf drei Männer, einer seltsamer als der andere und ebenfalls Kinder des Unbekannten. Mit unzähligem Getier und höchst eigenwilliger Ethik hausen sie in einer Sanatoriumsruine, der einstigen Wirkungsstätte des Alten, die viel mehr Geheimnisse über die brüderliche Schicksalsgemeinschaft in sich birgt als zunächst geahnt.
Die Figuren von Men & Chicken sind noch skurriler ausgestattet als in den filmischen Vorläufern – allen voran die von Jensens treuem Weggefährten Mads Mikkelsen, der als Elias, kaum wiederzuerkennen, in dieser epochalen Hau-drauf-Arie die Leadstimme hat. Er prügelt und onaniert sich durch die Sequenzen und könnte in seiner kindlich-anhänglichen Verzweiflung glatt als Hommage durchgehen an Beaker, den Assistenten und Testtier für alles aus der Muppet-Show. Sprechende Namen lassen die Figuren teils ihre zu erwartenden Rollen erfüllen, teils sind sie ihr heiter-bösartiges Gegenbild: Was ist von einem wie Franz (Søren Malling) zu halten, der den Namen des Schutzpatrons der Tiere trägt, gleichzeitig aber sein Umfeld vorzugsweise mit ausgestopften Viechern traktiert?
Bei all dem offensichtlichen Vergnügen, das Men & Chicken bietet, ist die Komödie sicherlich kein fiktiver Stimmungsbericht aus einem dänischen Deppenlager. Schon allein, weil Jensens vermeintliche Tabubrüche (die die meisten Hollywoodspaß-Produzenten beim Durchlesen des Skripts wohl gar nicht mitbekommen würden, da sie das Werk schon nach einer Seite dem Reißwolf übergeben hätten) eine Reflexion über den Fortschritt der modernen Wissenschaft sind, auch wenn Setting und Figuren nicht unbedingt unserer Zeit zu entstammen scheinen.
Men & Chicken hält sich im Absurden auf, folglich liegen auch scheinbar abwegige Assoziationen nahe: Den Komödianten Jensen treiben, unter anderem ähnliche Fragen um wie die beiden deutschen Filmemacher Gerhard Schick und Miriam Jakobs in ihrem Dokumentarfilm Das dunkle Gen. Darin begibt sich ein depressionskranker Arzt auf die Spuren seiner Krankheit, die ihn zur multidisziplinären Beschäftigung mit moderner Genetik führen. Wie leben mit dem, was einem mitgegeben wurde? Wohin bringt den Menschen seine Sehnsucht und Fähigkeit, nicht nur das Undenkbare zu denken, sondern auch den nächstmöglichen Schritt zu gehen? Furchteinflößend sind die Perspektiven in beiden Werken, und doch findet man sowohl im Dokumentarfilm als auch in der Komödie jeweils Trost an den unerwartetsten Stellen.
»Alles wesentliche Erkennen betrifft die Existenz.« Dieser zentrale Bestandteil der Philosophie von Jensens Landsmann Søren Kierkegaard ist jedem der fünf Brüder in Men & Chicken vorbehalten. Und gleichwohl die Groteske wahrlich keine religiöse Grundhaltung offenbart, präsentiert sie, beabsichtigt oder nicht, am Ende doch eine gültige Vision vom perfekten Sein, das Kierkegaard als das religiöse, das letzte seiner drei „Stadien auf dem Lebensweg“ bezeichnet: »Es kommt darauf an, dass einer es wagt, ganz er selbst zu sein; allein vor Gott, allein in dieser ungeheuren Anstrengung und mit dieser ungeheuren Verantwortung.« Gemeinsam, mit Familie oder anderen Art(fremden)genossen, lebt sich’s mit ihr auf jeden Fall heiterer.