Frankreich 2021 · 139 min. · FSK: ab 12 Regie: Yvan Attal Drehbuch: Yvan Attal, Yaël Langmann Kamera: Rémy Chevrin Darsteller: Ben Attal, Suzanne Jouannet, Charlotte Gainsbourg, Pierre Arditi, Mathieu Kassovitz u.a. |
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Schutzbedürftig | ||
(Foto: MFA/Filmagentinnen) |
Wind rauscht in den Blättern, die junge Frau zieht ihre Jacke enger an ihren Körper. Es ist tiefste Nacht in Paris. Das Licht der Straßenlampen im menschenleeren Park scheint gerade hell genug, um den Zweifel in ihrem Blick erkennen zu lassen. Eine kleine Hütte soll sie vor der Kälte der Herbstnacht schützen. Sie zögert. Daneben wartet ihre männliche Begleitung und nickt ihr ermutigend zu. »Du hast doch keine Angst, oder?« Wieso auch? Schließlich vertraut sie ihm schon den ganzen Abend.
Als Alexandre (Ben Attal) aus seinem Studium in Stanford zu Besuch nach Paris kommt, soll für seine Eltern Claire (Charlotte Gainsbourg) und Jean Farel (Pierre Arditi) ein Alptraum wahrwerden. Nach einer Partynacht wird er der Vergewaltigung seiner Stiefschwester in spe angeklagt. Claire ist erfolgreiche Essayistin mit Schwerpunkt Feminismus, Jean hat seine eigene Fernsehsendung. Ein Leben in der Öffentlichkeit. Das Interview, in dem Claire noch am selben Abend für die härtere Verurteilung von Sexualstraftätern plädierte, lässt sie nun wie eine Witzfigur dastehen.
Dabei hat der Abend so gut begonnen.
Alexandre trifft den neuen Freund seiner Mutter zum Abendessen – und mit ihm dessen Tochter Mila (Suzanne Jouannet). Fünf Jahre trennen die jungen Leute. Ihre Eltern versuchen, eine Verbindung herzustellen. Der Verlegenheit beider nach zu urteilen, scheint es zu funktionieren. Warum also sollten sie nicht gemeinsam ausgehen?
Menschliche Dinge ist die Verfilmung des gleichnamigen französischen Romans von Karine Tuil, der von wahren Begebenheiten inspiriert wurde. Selbst Alexandres Studienort ist bewusst gewählt, so lieferte der Fall Stanford im Jahr 2015 dafür die Vorlage. Dort wurde eine Studentin auf einer Verbindungsparty vergewaltigt und der Täter vom Richter mit einem milden Urteil entlassen. Regie führte Yvan Attal, der auch zusammen mit Yaël Langmann für das Drehbuch zuständig war.
In der Metro sitzen sich Alexandre und Mila gegenüber. Sie tauschen verstohlene Blicke, neigen sich in die Richtung des jeweils anderen, um die Kopfhörer nicht zu verlieren, die sie sich teilen. Diese unschuldige Szene macht es dem Publikum nicht leicht, den darauffolgenden Schock über die Anzeige gegen Alexandre zu verarbeiten.
Wie der Gerichtsprozess beide Seiten der Geschichte beleuchtet, so stellt auch der Film die Figuren getrennt vor. Er – ein attraktiver Mann Anfang zwanzig, wohlhabende Eltern, Auslandsstudium in Kalifornien. Trotz Musik auf den Ohren bemerkt er am Flughafen sofort die ältere Dame, der er mit dem schweren Koffer zur Hand geht. Seine Eltern haben ihn gut erzogen. Ein Gentleman mit Hundeblick.
Sie – das Abitur noch nicht in der Tasche, noch nicht einmal volljährig. Mila trinkt keinen Alkohol und raucht nicht. Ihre Mutter ist eine strengreligiöse Jüdin. Intimer Kontakt mit Männern kommt daher nicht infrage.
Doch es gibt einen entscheidenden Unterschied. Milas Welt wird erst nach dem Vorfall für das Publikum ersichtlich, während Alexandre bereits davor über sein Inneres charakterisiert wird und so Sympathiepunkte sammeln kann. Eine kluge Strategie des Films, welche eine Parallele zur Realität zieht, in der dem Mann und seiner Geschichte oft mehr Gehör geschenkt wird.
Der Filmtitel trifft auch in der deutschen Übersetzung noch diese heikle Problematik, die bei Vergewaltigungsanschuldigungen so leicht die Opferrollen vertauschen lässt.
Das Bedürfnis des Fortpflanzungstriebes ist nüchtern betrachtet menschlich – und doch haftet diesem Ausdruck in der Gesellschaft schnell eine relativierende Note an. Ist es menschlich, die Signale des anderen falsch zu deuten, nur weil man in diesem Moment lediglich die eigenen Bedürfnisse im Kopf hat?
Beide Hauptfiguren zeigen im Hinblick auf den Vorfall Widersprüchlichkeiten, die das Publikum selbst deuten muss. Alexandres dominante Art und die vulgären Forderungen, die ihn erst schuldig wirken lassen, lebte er mit seiner Exfreundin einvernehmlich aus. Und auch in Milas Vergangenheit finden sich Lücken und Widersprüche.
Das männliche Patriarchat und dessen fester Platz in unserer Gesellschaft ist im Film ständig präsent. TV-Moderator Jean Farel steht zwar altersbedingt auf der Abschussliste der – weiblichen – Senderchefin, doch nach wie vor nutzt er seine Machtposition aus, um junge Praktikantinnen ins Bett zu bekommen. Ein klassisches Beispiel vor dem Hintergrund der #MeToo-Debatte, das einen nachdenklich stimmt. Auch wenn Top-Positionen heute häufiger von Frauen besetzt werden, läuft hinter den Kulissen derselbe Film weiter.
Menschliche Dinge stellt vor allem eine Frage: Wie entscheidet man, wo unterschiedliche Wahrnehmung aufhört und eine Straftat beginnt, wenn Aussage gegen Aussage steht?