Schweiz/F 2016 · 66 min. · FSK: ab 0 Regie: Claude Barras Drehbuch: Céline Sciamma Musik: Sophie Hunger Kamera: David Toutevoix Schnitt: Valentin Rotelli |
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Feine Gratwanderung zwischen schonungsloser Offenheit und stiller Poesie |
Ein Kinderfilm wie ein Gedicht? Ein Stop-Motion-Film, der einen 6-jährigen verstummen, einen 15-jährigen staunen und versinken und einen Erwachsenen nur noch regungslos vor Rührung und Freude zurücklässt? Gibt es nicht? Doch, gibt es.
Als Roman unter dem Titel „Mein Leben als Pflaume“ 2002 in Frankreich erschienen, war es trotz Kind-Perspektive und betont einfacher Sprache gar nicht so einfach sich vorzustellen, diesen Stoff in einen Film überführt zu sehen. Denn Gilles Paris‘ Stoff hat es in sich, ist mit „klassischen“ Kindertraumatathemen nur so übersät, und da machen es auch die kleinen Änderungen im Plot von Claude Barras Adaption nicht viel leichter: Immer noch geht es da um einen verwahrlost aufwachsenden 9-jährigen Jungen, der von seiner Alkoholikermutter Zucchini genannt wird und sich durch einen schwerwiegenden Zufall plötzlich in der Obhut eines Kinderheims wiederfindet, in denen die Schicksale der anderen Kindern dem seinen keinesfalls nachstehen, im Gegenteil. Die aus diesem Themenfeld bekannten Hierarchien machen Zucchini zu schaffen, aber schon schnell verlässt Claude Barras Film die bekannten Stereotype, überrascht und verzaubert, ohne dabei seinen ungewöhnlichen moralischen Impetus zu verlassen, der vielleicht am ehesten an Henry Sellicks Coraline und andere Laika-Produktionen erinnert – eine feine Gratwanderung zwischen schwarzem Humor, schonungsloser Offenheit und stiller Poesie.
Dass diese Moral, die sich nicht scheut, Kindern auch mit ihren eigenen Ängsten und den „bösen“ Anteilen der Welt da draußen zu konfrontieren, dennoch verträglich ist, liegt wie bei den meisten Laika-Produktionen, auch bei Barras, an der kongenialen Überführung des Themas in die Stop-Motion-Welt. Und mehr noch gelingt es Barras und seinem Team auch noch, eine völlig neue Formensprache und Ästhetik zu schaffen, die vom ersten Moment an nicht nur bezüglich des Schwerpunktes kindlicher Traumate überzeugt, sondern einfach nur Spaß macht und begeistert. Und überrascht: Anders als bei Laika oder Aardman Studios (Shaun das Schaf), die für konsistente, bis ins feinste Details ausgearbeitete Hintergründe stehen, passen sich in Mein Leben als Zucchini die Hintergründe der seelischen Befindlichkeit seiner Protagonisten an. Geht es ihnen schlecht, wird das „Äußere“, der Hintergrund, so wichtig wie die eigenen Sehnsüchte, gewinnen liebevolle Details an Bedeutung. Geht es ihnen jedoch gut, liegt alles Detail auf den liebevollen, grandiosen, übergroßen Köpfen, werden die Hintergrundlandschaften zu scherenschnittartigen Kaleidoskopen.
Und wem das alles nicht reicht? Für den dürften sich die 66 Minuten allein schon wegen der Schweizer Sängerin Sophie Hunger lohnen, die in der französisch-schweizerischen Koproduktion für die Musik zuständig ist und am Ende eine fantastische Version des Noir Desir-Klassikers Le Vent Nous Portera beiträgt, die mit einem Abschlussbild verschmolzen wird, dass rührt, das lachen, das weinen, dass einfach alles mit einem macht und am Ende mit einem großen »Uff« im Kinosessel aufatmen läßt. Uff, was für ein toller Film.