Memory

USA/Mexiko 2023 · 104 min. · FSK: ab 12
Regie: Michel Franco
Drehbuch:
Kamera: Yves Cape
Darsteller: Peter Sarsgaard, Jessica Chastain, Merritt Wever, Jessica Harper, Elsie Fisher u.a.
Memory
Segen und Fluch der verlorenen Zeit...
(Foto: MFA+/Die FilmAgentinnen)

Trauma als Traum

Michel Francos Beziehungsdrama über eine scheinbar unmögliche Liebe ist wie eine Matroschka – er überrascht und berührt bis zur letzten Minute

»And although my eyes were open
They might just as well have been closed.«

A Whiter Shade of Pale, Gary Brooker und Matthew Fisher

Es ist einer dieser Filme, über die man eigent­lich gar nicht schreiben möchte, weil man jedem Zuschauer einfach nur wünscht, die gleiche Über­ra­schung, die gleiche Freude, das gleiche Entsetzen und die gleiche Trau­rig­keit zu erleben, eine Abfolge, die einem erlesenen, mehr­gän­gigen Essen gleicht, dessen Kompo­si­tion erst am Ende wirklich verstanden werden kann, bei dem die Trauer auf das Vergan­gene so groß wie die Freude auf das Kommende ist. Denn Michel Francos Memory ist ein Film der Häutungen. Einer Matroschka gleich, entpuppt er sich immer wieder von neuem und ist doch der gleiche Film.

Ein Film, der auch ein groß­ar­tiger New York-Film ist, weil er ein New York zeigt, das kaum einem bekannt sein dürfte, das sich genauso immer wieder von neuem verpuppt und entpuppt wie die Geschichte, die Franco hier so subtil und alltäg­lich erzählt wie schon in seinem letzten Film Sundown. Zwar spielt Sundown in Acapulco, doch auch dort entzieht sich ein Mann seiner Vergan­gen­heit, auch er ist von einer Krankheit gezeichnet, sind die Paar­be­zie­hungen immer antago­nis­ti­sche Bezie­hungen. In Memory, der 2023 in den Wett­be­werb von Venedig einge­laden worden war, ist die Krankheit aller­dings das Vergessen selbst, leidet der von Peter Sarsgaard umwerfend darge­stellte Saul, der erst Mitte 50 ist, unter einer frühen Form der Demenz und Absenzen, die ihn schlaf­wand­le­risch zu Orten und Menschen führen, in denen er sich dann verliert. In Francos Film ist es die allein­er­zie­hende Mutter Sylvia (großartig von Jessica Chastain verkör­pert, die seit ihrer Rolle in Take Shelter einer der faszi­nie­ren­desten Charak­ter­dar­stel­le­rinnen Holly­woods ist), die er gleich zu Anfang auf einem Klas­sen­treffen seiner High School trifft. Sylvia ist nicht nur allein­er­zie­hend, sondern hadert ebenfalls mit ihrer Vergan­gen­heit. Doch hat Saul seine Vergan­gen­heit unfrei­willig verloren, verdrängt Sylvia die ihre mutwillig, um wenigs­tens in Ansätzen in Frieden mit ihren Gespens­tern leben zu können.

Franco führt dieses ungleiche Paar auf fast schon unmög­liche Art und Weise zusammen und über­rascht dabei nicht nur durch eine unge­wöhn­liche Zärt­lich­keit und Gnaden­lo­sig­keit, sondern auch durch eine tiefe Symbolik, denn letzt­end­lich wählt sich Sylvia ja das leib­haf­tige Vergessen zu ihrem Partner und Saul sich das, was er sich am meisten wünscht, eine stets präsente, nagende Vergan­gen­heit. So unmöglich diese Beziehung erscheint, so ideal ist sie dann aus den beiden Binnen­per­spek­tiven auch, weil sich jeder im Anderen spiegelt und daraus seeli­sches Heil zieht. Doch wie jedes Heil ist auch dieses Heil schmerz­haft, weil es durch Sauls Bruder, bei dem er wohnt, Facetten erhält, die genauso irri­tieren wie die Facetten, die durch Sylvias Ursprungs­fa­milie in dieses dichte, psycho­lo­gisch über­ra­gend kompo­nierte Kammer­spiel getragen werden.

Dabei lässt sich Franco die Zeit, die es braucht, seine komplexen Charak­tere, die bis in die Neben­rollen hervor­ra­gend besetzt sind, zu entwi­ckeln, sie in Arbeits­alltag und Wohnalltag zu verwi­ckeln und mit so schweren wie luziden Dialogen zu unter­legen und von mensch­li­chen Innen­räumen zu erzählen wie von Mutmaßungen. Denn so unklar hier Demenz funk­tio­niert, so undeut­lich ist dann auch das Erinnern, werden hier genauso falsche als auch wahre Erin­ne­rungen an einen Miss­brauch neben­ein­ander in den Raum gestellt und in einem beein­dru­ckend insze­nierten Fami­li­en­mo­ment auch verhan­delt, fast so, wie es sich Joan Baez in Joan Baez – I Am a Noise (2023) für sich und ihre Familie gewünscht hat. In Memory ist das noch möglich, weil fast alle Betei­ligten noch leben. Und natürlich, weil wir uns in einem fiktio­nalen Raum befinden, in dem alles möglich scheint. Das Wunder­bare dabei ist, dass auch das Mögliche, so wie im realen Leben, am Ende eben nur eine Möglich­keit ist, aber kein Heil­ver­spre­chen, denn einer Zwiebel oder halt Matroschka gleich, verbirgt ein Trauma nur das nächste und haben auch die vermeint­lich Gesunden Geheim­nisse, die sie zu über­ra­schenden Hand­lungen drängen, so wie in Memory Sauls Bruder, der eine eben­solche gravie­rende Trans­for­ma­tion durch­läuft wie eigent­lich jede und jeder in diesem Film.

Die Kamera von Yves Cape, die schon in Sundown etwas Enig­ma­ti­sches, Tran­szen­den­tales hatte, besticht auch hier mit Momenten, die sowohl das Vergessen als auch das Erinnern mit einer Bild­sprache umkreist, die entspre­chender nicht sein könnte, um sich dann aber stets mit düsteren, mono­chromen Bildern neu zu erfinden und in dem New York anzu­kommen, das schließ­lich die Schnitt­stelle der Liebenden ist und in Bildern genau das erzählt, was in einem abschließenden Dialog viel­leicht auch als die Essenz des Lebens und der Liebe, des Erinnerns wie des Verges­sens gesehen werden kann, weil es ohne Außenwelt kein Morgen geben kann:
– Wie bist du hierher gekommen?
– Sie hat mir wohl geholfen.