USA 1998 · 143 min. · FSK: ab 12 Regie: Mike Nichols Drehbuch: Elaine May Kamera: Michael Ballhaus Darsteller: John Travolta, Emma Thompson, Billy Bob Thornton, Adrian Lester u.a. |
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Travolta als Clinton-Parodie |
Bill Clinton ist für Primary Colors Segen und Fluch zugleich:
Einerseits verhilft er durch seine spezielle Art von Praktikantinnenbetreuung dem Film derzeit zu jeder Menge kostenloser Publicity.
Andererseits aber verstellen seine heißdiskutierten Skandale den Blick dafür, daß es in Primary Colors um viel wichtigere und grundlegendere Dinge geht, als ein kaum verhülltes Portrait des derzeitigen US-Präsidenten.
Zu Beginn scheint das Ziel tatsächlich wenig mehr zu sein, als eine milde Satire auf den Mann aus Little Rock. John Travolta parodiert Clinton mit genau einstudierten Gesten, einer gekonnten Imitation der heiseren, von Arkansas-Akkzent geprägten Stimme und grau gefärbtem Haar samt Augenbrauen.
Und auch sonst läßt Primary Colors keinen Zweifel aufkommen, um wen es sich bei dem Südstaaten-Gouverneur »Jack Stanton« tatsächlich handelt. Basierend auf dem
gleichnamigen Bestseller (von Newsweek-Autor Joe Klein einst anonym veröffentlicht), wird die Geschichte der »Primaries« – des Kampfs um die parteiinterne Nominierung zum Präsidentschaftskandidaten – von 1992 aufgerollt, bei denen Clinton zum erstenmal die Bühne der großen, nationalen Politik betrat – und zum erstenmal durch sein unpuritanisches Intimleben von sich reden machte.
Wichtige Schlüsselfiguren sind in mehr als durchsichtiger Vermummung
mit von der Partie (Emma Thompson gibt eine überzeugende und bei aller Härte sympathische Hillary; Billy Bob Thorntons »Richard Jemmons« ist eine köstliche Parodie James Carvilles), und denkwürdige Ereignisse wie die Geniffer Flowers-Affäre (und der anschließende Auftritt der Clintons bei »60 Minutes«) werden bis ins Detail nachgestellt.
Aber Primary Colors begnügt sich nicht damit, als film à clef zu wiederholen, was die brillante Doku The War Room schon längst überzeugend vorführte. Michael Ballhaus' stets kreisende, wechselnde Figurenkonstellationen einfangende Kamera und Mike Nichols auf Ensembles konzentrierte Inszenierung lassen schnell spüren, daß es nicht nur um die
Geschichte einer Person geht, sondern um Beziehungsgeflechte, um übergeordnete Dynamiken, um Machtstrukturen.
Je weiter der Film sich entwickelt, um so deutlicher wird, daß John Travolta noch eine zweite Rolle spielt als die Clintons: nämlich die des mephistophelischen Verführers. Als solcher zieht er den jungen, schwarzen Politiker-Aspiranten Henry Burton (Adrian Lester) – der quasi als Platzhalter für die ZuschauerInnen dient – in ein grundlegendes Dilemma:
Ist es in einem korrupten System moralisch vertretbar, seine Ideale aus taktischen Gründen vorübergehend aufzugeben, um eine Position zu erlangen, von der aus man das System ändern kann? Kann man, um des hehren Zieles willen, ein schmutziges Spiel mitspielen, ohne sich selbst – und das Ziel – unwiderruflich zu beflecken? Und was ist von einem Staat und einer Gesellschaft zu halten, die zu solchen Entscheidungen zwingen – und dann meist den Verrat der Ideale
belohnen?
Dankenswerter Weise gibt sich Mike Nichols Film nicht als derart klug, daß er einfache Antworten parat hätte, und er liefert seine Wertung auf sehr elegante Weise, die das Publikum zu geistiger Eigenleistung nötigt.
Zweierlei kann man Primary Colors alllerdings vorwerfen:
Zum einen seinen leicht naiven Glauben an eine Position außerhalb des Systems. Der Film hält noch an der Möglichkeit fest, sich gegen das Mitmachen in dem System zu entscheiden – dabei ist doch auch der Akt der Verweigerung schon immer ein Akt innerhalb des Systems.
Zum anderen ist bedenklich, wie der Film die Positionen der Unschuld besetzt: Dort finden sich ausschließlich Menschen,
die außerhalb des Bildes stehen, das sich das weiße Mainstream-Amerika von »Normalität« macht. Die Unverdorbenen in Primary Colors sind Schwarze und Homosexuelle – und während es zwar nett und politically correct ist, sie in solch moralisch ehrendem Licht zu zeichnen, bleibt halt leider auch gutgemeinte Diskriminierung immer noch Diskriminierung.
Dennoch gehört Primary Colors derzeit zu den sehenswertesten Filmen: Für alle, die perfektes filmisches Handwerk, sorgfältige und durch Genauigkeit bestechende Regie, solide Drehbücher (von Elaine May, einer Kollegin von Mike Nikols seit den guten, alten Zeiten bei Chicagos anarchischer »Second City«-Comedy-Truppe) und hervorragende Schauspieler lieben.
Aber auch für alle, die angesichts des derzeitigen Bundestags-Wahlkampfs ein starkes Unbehagen
beschleicht. Die besorgt beobachten, wie konkrete Inhalte verschwinden zugunsten von rhetorische Häppchen, die von Werbe-Strategen auf maximale Popularität maßgeschneidert werden – und wie schnell die meisten Parteien bereit sind, ihre Grundsätze über Bord zu werfen, um der Macht ein paar demoskopische Prozentpunkte näher zu kommen. Denn in Primary Colors geht es letzlich nicht weniger um Gerhard Schröder als um Bill Clinton – und mehr noch als um
amerikanische Präsidentschaftswahlen, geht es um die Tücken der Demokratie schlechthin.