Frankreich 2009 · 104 min. · FSK: ab 12 Regie: Jean-Pierre Jeunet Drehbuch: Jean-Pierre Jeunet, Guillaume Laurant Kamera: Tetsuo Nagata Darsteller: Dany Boon, Julie Ferrier, André Dussollier, Nicolas Marié, Jean-Pierre Marielle u.a. |
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Spielzeuge für Erwachsene |
Die Dinge haben Jean-Pierre Jeunet schon immer weitaus mehr fasziniert als die Menschen; die Bewegungen der Objekte mehr als die der Seele. Nicht zufällig entpuppt sich ausgerechnet die humanste aller Figuren in seiner Alien-Verfilmung am Ende als Roboter. Folgerichtig ist Jeunets Kino bereits seit seinem Erstling Delicatessen (1991) vor allem eines der Jahrmarkts-Sensationen und der Zirkustricks, und lebt immer auch ein klein wenig davon, sich selbst auszustellen, hinter die Kulissen blicken zu lassen. Sein Kino ist ein Kino der Phantastik, aber paradoxerweise nicht der Phantasie, es sei denn Jeunets eigener. Staunend schaut man zu, wie sich das rasende Räderwerk seiner Einfälle in Bewegung setzt, wie die Maschine surrt und schnurrt, blickt in ein Kuriositätenkabinett voller bizarrer Gestalten mit seltsamen Gesichtern und Eigenschaften, auf eine in warme Sepiatöne, in Grün und Hellbraun getauchte Märchenwelt, die der unsrigen verblüffend ähnlich sieht, um dann doch wieder von ihr abzuweichen, weil in ihr alles nur Spielzeug für den Regisseur wird.
In diesem Fall steht ein junger Mann namens Bazil im Zentrum, der vom Schicksal arg gebeutelt wird: Sein Vater, ein Sprengmeister, fliegt beim Entschärfen einer Landmine in die Luft, die Mutter wird darob wahnsinnig, und er kommt ins Heim. Kaum erwachsen flieht er vor der Welt, wird Videothekenbetreiber und schaut sich wieder und wieder seinen Lieblingsfilm an, Howard Hawks Chandler-Verfilmung The Big Sleep. Kaum tritt er einmal vor die Tür, schlägt der Zufall wieder zu: Eine verirrte Kugel trifft seinen Kopf, gerade so, dass sie nicht mehr entfernt werden kann, und im Hirn sitzen bleibt, mit unklaren Folgen.
Das alles ist nur Exposition. Die eigentliche Geschichte von Micmacs kreist darum, wie Bazil nun auf eine Gruppe Obdachloser trifft, mit denen er in einer Müllhöhle auf einem Schrottplatz lebt, und auf Rache sinnt. Denn sind nicht die Waffenhändler daran schuld, wenn Waffen benutzt werden und Kugeln in Köpfen landen? Aber nicht diese Handlung mit ihrem märchenhaften Happy-End ist die Essenz auch von diesem Jeunet-Film, sondern seine vielen kleinen Einfälle und
putzigen Momente – die einerseits den Blick aufs Ganze verstellen, andererseits höchst reizvoll anzusehen und überaus kurzweilig sind. Wie absurd etwa Jeunet das Leben jener zwei besonders schurkischen Waffenfabrikanten ausmalt, auf die Bazil es abgesehen hat, ist bezaubernd: André Dussollier spielt den einen davon, namens Nicolas Thibault de Fenouillet. Im Arbeitszimmer hat er außer einem Schreibtisch-Bild seines Freundes Sarkozy vor allem eine Sammlung von Körperteilen
berühmter Personen: Neben einem Backenzahn der Monroe gibt es da auch den Daumen von Matisse, ein Auge Mussolinis und das Herz Ludwigs des Vierzehnten.
Oder jene Patchwork-Familie aus Obdachlosen, die Bazil aufnimmt: Sie entpuppt sich als Gemeinschaft von Freaks, die alle wie verquere Superhelden über irgendwelche außergewöhnlichen artistischen Eigenschaften verfügen, und zusammen an die Spielzeugfiguren in Toy Story erinnern, die sich auch gegen die Bösen aufmachen: Es gibt da Mademoiselle Kautschuk, eine Schlangenfrau, die Rechenkünstlerin Calculette, eine Art menschliches Metallersatzteillager namens Bric-à-Brac, und einen Kanonenkugelmann – wie gesagt: Jeunet ist ein Erbe des Zirkusses, und damit der Frühzeit des Mediums ebenso stark verbunden wie dessen erstem Meister, seinem französischen Landsmann Georges
Méliès.
Auf die Dauer hat diese Fülle allerdings auch etwas Erschöpfendes, stellt sich der Eindruck eines rasenden Stillstands ein, dem hinter lauter Ideen die Geschichte abhanden gekommen ist. Zudem ist der Kitsch mancher Szenen einfach schwer zu ertragen, weil auch er etwas Konfektioniertes hat, weil man dem Regisseur das Gefühl nicht abnimmt. Alles bleibt hermetisch.
Daran, das Micmacs kurzweilig ist, und man sich hier bestimmt nicht langweilt, ändern solche Einwände aber nichts. Was man Jeunet außerdem unbedingt zugute halten muss, ist seine ganz und gar unverwechselbare Handschrift. Seine Filme sind immer noch etwas ziemlich Besonderes, und man erkennt sie sofort – was er nicht nur immerhin mit Meistern wie Tarkowski und Chaplin gemeinsam hat, sondern auch mit Terry Gilliam, den man noch am ehesten als Jeunets Bruder im Geiste bezeichnen könnte. In manchem ist das alles auch dem kunterbunten Kosmos von Wes Anderson vergleichbar. Im Gegensatz zu dessen Puppenstubenwelten durchzieht aber auch Micmacs ein düsterer, trauriger Grundton. Jeunet selbst ist kein Eskapist, er will auf seine ganz eigene naive Weise den Finger in die Wunden der Welt legen. Eine Spielzeugwelt ist das alles also schon, aber eine für Erwachsene.