Japan 2015 · 90 min. · FSK: ab 6 Regie: Keiichi Hara Drehbuch: Miho Maruo Musik: Harumi Fuki Kamera: Kôji Tanaka Schnitt: Shigeru Nishiyama |
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Animationsfilm, der die Edo-Zeit aufleben lässt |
Tetsuzo Hokusais Farbholzschnitt »Die große Welle vor Kanagawa« aus dem Zyklus »36 Ansichten des Berges Fuji« gilt als eines der bekanntesten Werke der japanischen Kunst. Der Meister (1760-1849) wurde bereits zeitlebens landesweit für seine Skizzen, Grafiken und Holzschnitte gerühmt, in denen er alltägliche Momente der Edo-Zeit, aber auch erotische Szenen und mythologische Wesen abbildete. Dabei gilt er sogar als Vorreiter der Manga-Kultur, wurden seine Skizzen doch in mehreren Sammelbänden zusammengefasst, die sich zum Ende der Edo-Zeit großer Beliebtheit erfreuten. Im Zuge des Japonismus ließen sich auch viele europäische Kunstschaffende wie Claude Debussy, Vincent van Gogh oder Gustav Klimt von den Werken Hokusais inspirieren, die Regisseur Keiichi Hara (Colorful) in seiner ungewöhnlichen animierten Filmbiographie Miss Hokusai nun ein ums andere Mal innerhalb der Handlung zum Leben erweckt.
Der japanische Regisseur widmet sich in seinem zwölften Animationsfilm diesem wichtigen Vertreter der japanischen Kunstgeschichte nicht direkt, sondern setzt Hokusais ebenfalls künstlerisch begabten Tochter O-Ei ins Zentrum des Geschehens, über deren Leben und Wirken weitaus weniger bekannt ist. Dem zugrundeliegenden Manga von Hinako Sugiura entsprechend, entführt Miss Hokusai in das geschäftige Edo des Jahre 1814 und erzählt, eingerahmt von den Jahreszeiten, Anekdoten aus dem Leben der fünfundzwanzigjährigen Künstlertochter, die mit großer Wahrscheinlichkeit auch an Werken ihres Vaters beteiligt war.
Haras Protagonistin ist eine starke, selbstbewusste junge Frau, die eine unnahbare Rockstarattitüde pflegt, wenn sie durch die geschäftigen Straßen eilt oder eine Pfeife raucht. Aufbrandende Rockmusik ist denn auch das einzige anachronistische Element in dem Animationsfilm, der mit seinen detailreichen Hintergründen die Edo-Zeit aufleben lässt. O-Ei begegnet ihrem arbeitswütigen und etwas weltfremden Vater mit Abscheu und Distanz, kann sie doch nicht begreifen, wie sehr er alles, was nicht mit seiner Kunst in Verbindung steht, vernachlässigt. Die resolute Tochter verübelt es ihrem Vater insbesondere, dass er ihre blinde, körperlich angeschlagene Schwester O-Nao gänzlich ignoriert. Anderseits erfüllt die beeindruckende Werkkollektion ihres Lehrmeisters O-Ei sichtlich mit Stolz und Erfurcht.
In Miss Hokusai werden (Alp)-träume im Rausch der Inspiration zu Zeichnungen und erwachen die figürlich auf das Papier gebannten Kreaturen und Monster manchmal gar zum Leben. Das Phantastisch-Unerklärliche, das sich irgendwo zwischen Himmel und Hölle abspielt, greifbar und damit auch vorstellbar zu machen, ist eine wichtige Facette der Kunst Hokusais, der zahlreiche Bilder von furchteinflößenden Drachen und Dämonen schuf. So eröffnet Regisseur Hara in Miss Hokusai einen Einblick in das alltägliche Leben der Edo-Zeit und zeichnet den wortkargen Künstler aus der Sicht seiner, viel praktischer und geschäftstüchtiger agierenden Tochter. Doch zwischenzeitlich wird der sich um Auftragsarbeiten, aufdringliche Schüler und O-Eis Besuchen bei ihrer blinden Schwester drehende Alltag unterbrochen, um die Welt des (Aber-)Glaubens zu beleuchten, für die Vater und Tochter ein besonders Gespür zu haben scheinen. Gerade diese kurzen mystischen Geschichten, in denen sich Realität und Fiktion überschneiden und Motive von Hokusais Werken innerhalb von abgeschlossenen Episoden ein Eigenleben entwickeln, mache die Stärke von Miss Hokusai aus. Der mit auflockernden komödiantischen Einlagen versehene episodische Charakter des Films spiegelt zwar die unlineare Struktur des zugrundeliegenden Mangas, nimmt dafür aber einen unebenen Storyfluss und eine fehlende Figurenweiterentwicklung in Kauf. Die feministische Züge tragende Tochter des wohl größten Künstlers der Edo-Zeit fungiert dabei als Bindeglied für die lose arrangierten Geschichten. Dabei wechselt sich die realistische Darstellung des Lebens der ungewöhnlichen Künstlerfamilie mit kurzen Episoden um Geisterglauben und die mystische Kraft der Kunst ab, die Miss Hokusai zu einer außergewöhnlichen filmischen Annäherung an das Werk der japanischen Künstlerlegende werden lassen.